SOS über dem Pazifik

Wenn sich Kleinflugzeuge über den Ozean wagen

Jay Prochnow ist der einsamste Mann der Welt. Der schlaksige Pilot sitzt mitten über dem Pazifik, eingezwängt in einem klapprigen, einmotorigen Agrar-Sprühflugzeug, einer Cessna 188. Seit fünfzehn Stunden ist er unterwegs, mit rund 200 Stundenkilometern und laut Kompass ständig Kurs 216 Grad. Die letzten Stunden folgte er der untergehenden Sonne, die nur noch wenige Handbreit über dem Horizont steht. Unter sich seit dem Start ab und zu kleine Wolkenfelder, sonst nichts als Ozeanwellen, von denen aus 4000 Metern Höhe die Schaumkronen noch zu erkennen sind. Er will herunter. Eigentlich müsste er längst über seinem Zielflughafen sein, Norfolk Island.

Prochnow befindet sich auf der vorletzten Etappe seines Fluges 771 von San Francisco nach Sydney. Es ist der 21. Dezember 1978, das Satellitennavigationssystem GPS ist noch nicht erfunden. Und so grenzt es eigentlich an ein Wunder, dass ein winziger Punkt im Ozean wie die Norfolk-Insel bei Australien aus dem 2500 Kilometer entfernten Pago Pago in Amerikanisch-Samoa punktgenau anzupeilen ist. Doch auf Wunder kann man sich nicht immer verlassen. Und so ist Prochnow nun in einer Situation, die für ihn und andere Überführungspiloten, sogenannte „Ferry-Piloten“, der Albtraum schlechthin ist.

Seit einer Stunde versucht er, Norfolk Radio auf Ultrakurzwelle zu erreichen, ohne Erfolg: ein Zeichen dafür, dass er mindestens 300 Kilometer von der Insel entfernt ist. Der Sprit in seinen Zusatztanks reicht nur noch für wenige Stunden. Vielleicht ist Prochnow längst über die Insel hinaus, oder er wurde nach Süden oder Norden abgedriftet. Über die unendlich weit reichende Kurzwelle ruft er schließlich Auckland in Neuseeland. Aber die Fluglotsen können dem Verirrten nicht helfen, wenn sie nicht wissen, wo er sich befindet. Die Männer in Auckland setzen die Rettungsmaschinerie in Gang.

Sie suchen den Großraum um Prochnows vermutete Position nach Airlinern ab, die in der Weite des Ozeans nach einer kleinen Cessna Ausschau halten könnten, die 6000 Meter tiefer als sie fliegt. Es gibt wenig Hoffnung, aber erst recht keine Alternative, um Prochnow eine Chance zu geben. Eine Rettungsaktion läuft an, die Regisseur Roger Young 1993 – leicht abgeändert – in Hollywood verfilmen wird: „SOS über dem Pazifik“.

Ferry-Piloten sind immer dann zur Stelle, wenn Fluggerät über Strecken zu überführen ist, für die es nicht gebaut ist: kleine ein- oder zweimotorige Maschinen über den Atlantik oder den Pazifik. Die Strecke über den Nordatlantik ist zwar kürzer als die von den USA nach Australien. Dafür haben dort die tollkühnen Männer in ihren winzigen Kisten hart mit dem Wetter zu kämpfen. Maschinen, deren Technik für zwei, drei Stunden Flugzeit ausgelegt sind, müssen Etappen von fünfzehn oder zwanzig Stunden bewältigen.

Neue Cessnas, Pipers und Beechcrafts werden, genauso wie gebrauchte, teils sehr gebrauchte, speziell hergerichtet und anschließend auf ihre 20-Stunden-Etappen über die Ozeane getrieben. Steht der Dollar hoch, gehen die Maschinen nach Nordamerika, ist er im Keller, fliegen sie in die Gegenrichtung. Als Prochnow sich über dem Pazifik verirrt hatte, in den siebziger Jahren, als der Dollar absackte, war die hohe Zeit der Ferry-Piloten. „15000 Kleinflugzeuge kamen damals pro Jahr aus den USA über den Atlantik, heute sind es unter 1000“, bedauert Dieter Schmitt, 75, der damals dabei war und es auf 355 Atlantiküberquerungen mit Kleinflugzeugen brachte. Für Schmitt sind solche Flüge eher Kurzstrecken, er hält mit seinem 33-Stunden-Flug von Anchorage in Alaska über den Nordpol nach München den Non-Stop-Weltrekord.

„Mutig müssen die Flieger sein, exzellente Piloten, und sie müssen viel Selbstvertrauen haben, um in heiklen Situationen richtige Entscheidungen zu treffen“, sagt Burt Fender, Flugkapitän einer kleineren US-Airline und früher selbst Ferry-Pilot, „aber sie dürfen keine Abenteurer sein, die unnötige Risiken eingehen.“

Dieter Schmitt schätzt, dass zur großen Zeit jährlich mehr als zehn Ferry-Piloten über die Ozeane gestartet sind, ohne je wieder auf festen Boden zurückzukehren. Auch er weiß: „Bei jedem Flug ist irgendwas nicht in Ordnung, mal harmlose Dinge, mal Entscheidenderes.“ Bisweilen bleibt nur die Hoffnung auf die Selbstheilungskräfte der Technik. Einmal fielen ihm über dem Atlantik beide Triebwerke einer zweimotorigen Maschine aus. Ein Hilferuf über einen Lufthansa-Jet war abgesetzt, die Rettungsflugzeuge schon startbereit. Im Sinkflug dann konnte Schmitt wieder beide Triebwerke starten. Sie liefen, als wenn nichts geschehen wäre.

Kaum ein Ferry-Pilot ist bei den Flugzeugherstellern fest angestellt. Für die allermeisten ist es ein Job, den sie ausüben, weil ihnen die Freiheit über den Wolken als Linienpilot zu sehr eingeschränkt wäre. Manche leiden bei unsicherer Auftragslage unter chronischem Geldmangel und steigen in Maschinen, die selbst für Überlandflüge zu riskant wären. Schmitt lernte auf Goose Bay, der kanadischen Abflugbasis nach Europa, einen Piloten kennen, der schon vor dem Start von akuten Problemen an seiner Benzinpumpe erzählte. Später, selbst in der Luft, fing Schmitt den Notruf des Kollegen auf – das Letzte, was man von ihm hörte.


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mare No. 16

No. 16Oktober / November 1999

Von Ulli Kulke

Ulli Kulke, Jahrgang 1952, ist stellvertretender Chefredakteur von mare

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