Sommerfrischler, stundenweise

Das Hospitalschiff vom East River geht im Sommer mit kranken und bedürftigen Kindern auf kleine Fahrt

„Es gibt eine andere, weniger glückliche Klasse, für die wir heute zu unserer Leserschaft sprechen. Spätabends können wir aus den Fenstern unserer Redaktion auf die verwahrlosten Kerlchen sehen, die da unten im Park von City Hall nächtigen. Sie haben kein Bett, bekommen kein richtiges Essen und werden nicht behandelt, wenn sie krank sind; ja, eigentlich könnten sie da eingehen, als ob Gott und die Menschen sie vergessen hätten.“
New York Times, 3. Juli 1872

Unter dem schmutzig weißen Sonnensegel des Oberdecks haben es sich zwei Frauen an der Reling bequem gemacht. Sie sitzen wortlos nebeneinander und schauen über die Bordwand auf die Wellen, die Schiff und Schlepper werfen. Die eine hält einen schlafenden Säugling auf den Knien; auf seinem Unterarm trommeln ihre Fingerspitzen sanft den Takt zur Musik aus einem Ghettoblaster. Erst als die andere sie leicht anstößt und mit dem Kinn auf die Gruppe von kichernden Mädchen weist, dreht sie ihren massigen Oberkörper dem Heck des Schiffes zu und hebt anerkennend die Augenbrauen.

Vor den Mädchen hat sich ein junger Mann im schwarzen Trikot aufgestellt, graziler als die meisten von ihnen und kaum größer. Seine Schultern senken sich, und wie sehnige Schlangen heben sich seine Arme, und die Finger beginnen zu schnipsen: „Zwei, drei, vier ...“ Er setzt ein paar einfache Schritte und eine Drehung. 30 verlegene Mädchen zwischen zwölf und 16 stehen da, fast alle noch bewegungslos. Nur ein paar der Jüngeren haben vergessen, dass sie es eigentlich peinlich finden und zu dick sind und doch gar nicht tanzen können. Endlich fallen sie nach und nach ein, bis sich die ganze Gruppe in einem einzigen Rhythmus dreht und in Wellen vor- und zurückschwingt.

Der Fahrtwind macht die Tanzstunde erträglich. Die beiden Mütter an der Reling haben angefangen zu plaudern, trotz der Hitze. Später am Nachmittag werden die Mädchen in einem der Zwischendecks im Kreis am Boden sitzen und am Anfang wieder verlegen kichern, wenn sie mit einer der Betreuerinnen über Verliebtsein reden, über Verhütung, Aids und Kondome, Themen, über die die meisten von ihnen zum ersten Mal in ihrem Leben etwas Verlässliches hören und noch nie etwas zu fragen trauten.

Es ist eine der Sommerfahrten des „Floating Hospital“. Frisch gestrichen und strahlend weiß wie das gestärkte Häubchen einer Krankenschwester aus den fünfziger Jahren sieht es aus, aber unter der Farbe steckt ein uralter Kahn, dessen Motor längst schon stillgelegt ist. Ruhig bewegt sich das Boot den Hudson hinauf; ein Schlepper, der nach Diesel stinkt, zieht es an kurzen Leinen Richtung Norden. Der Ausflug hat kein Ziel außer der Fahrt selbst. Die beiden Lotsen machen diesen Job schon lange; manchmal ziehen sie das weiße Boot auch in den East River, manchmal in die Upper Bay. Wenn dann dort eines der turmhohen Kreuzfahrtschiffe an ihnen vorbeizieht, ist der Tag für das Kindervölkchen das Ereignis des Sommers.

Die Kids und viele ihrer Mütter sind für einen Nachmittag auf das Schiff gekommen, um mit der Hitze der Stadt auch ihren elenden Alltag hinter sich zu lassen. Die meisten sind Afroamerikaner oder Latinos, kommen aus der Bronx, aus Queens oder aus Harlem; die wenigsten könnten sich solch einen Ausflug leisten. Das Schiff hat sie eingeladen und hält für alle Verpflegung und ein Programm bereit, 500 Kinder und Mütter. Nach Alter sortiert, ziehen die Kinder in kleinen Gruppen von Raum zu Raum. Für die Ältesten, die 16-Jährigen, Hip-Hop auf dem Oberdeck; für die Mittleren Theater und Malen auf dem ersten Deck oder die Gesundheitsstunde ganz hinten auf dem Zwischendeck; für die Kleinsten, die Vier- und Fünfjährigen, die Zaubershow im halbrunden Salon vorn im Bug.

Das „Floating Hospital“ ist das Flaggschiff einer der ältesten wohltätigen Institutionen New Yorks. Meist liegt es an einem der Piers an der Südspitze Manhat- tans im East River, ist Arzt- und Zahnarztpraxis, Gesundheits- und Beratungszentrum. An diesem brütenden Sommertag ist es ausgefahren und als Vergnügungsdampfer unterwegs.

Diese „summer sails“ sind seit 130 Jahren eine Attraktion. Das große alte Schiff holt seine Passagiere aus der Bruthitze der steinernen Straßen und lässt sie auf dem Wasser für ein paar Stunden ihre Probleme vergessen. Die Ausfahrten helfen aber auch vielen, Vertrauen zu fassen und später, wenn sie einmal Hilfe brauchen, wiederzukommen. Sie werden dann wissen, was sie erwartet, werden vor dem Wächter an der Gangway nicht umkehren, weil sie schon wissen, dass er zwar aussieht wie ein Schläger, aber lächeln kann wie ein Kind und zu allen ohne Unterschied freundlich ist. Und sie werden sich daran erinnern, dass die Leute auf dem Schiff ihnen nicht nur Hilfe versprochen haben, sondern dass sie tatsächlich zuhören und helfen.


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mare No. 33

No. 33August / September 2002

Von Hansjörg Gadient

Hansjörg Gadient, Jahrgang 1962, lebt als freier Autor in Zürich. Als er im Mai dieses Jahres nach fünf Jahren das „Floating Hospital“ zum zweiten Mal aufsuchen wollte, war es von Pier 11 verschwunden. Erst dachte er, das Projekt sei wegen Geldschwierigkeiten geschlossen worden. Der Autor fand das Schiff aber wieder – es war wegen des 11. Septembers hinter den Fischmarkt geschleppt worden.

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Vita Hansjörg Gadient, Jahrgang 1962, lebt als freier Autor in Zürich. Als er im Mai dieses Jahres nach fünf Jahren das „Floating Hospital“ zum zweiten Mal aufsuchen wollte, war es von Pier 11 verschwunden. Erst dachte er, das Projekt sei wegen Geldschwierigkeiten geschlossen worden. Der Autor fand das Schiff aber wieder – es war wegen des 11. Septembers hinter den Fischmarkt geschleppt worden.
Person Von Hansjörg Gadient
Vita Hansjörg Gadient, Jahrgang 1962, lebt als freier Autor in Zürich. Als er im Mai dieses Jahres nach fünf Jahren das „Floating Hospital“ zum zweiten Mal aufsuchen wollte, war es von Pier 11 verschwunden. Erst dachte er, das Projekt sei wegen Geldschwierigkeiten geschlossen worden. Der Autor fand das Schiff aber wieder – es war wegen des 11. Septembers hinter den Fischmarkt geschleppt worden.
Person Von Hansjörg Gadient