Söhne des Lichts

Zur Sonne, zur Freiheit! Der Fotograf Herbert List zeigte Männer, wie Gott sie schuf

Herbert Lists Fotografien aus den späten Zwanzigern feiern die berauschende Freiheit, die die deutsche Jugend nach der Abschaffung der wilhelminischen Gesellschaftsordnung in vollen Zügen genoss. Sie feiern die "Söhne des Lichts", junge Männer an den Stränden von Seen und Meeren, die nein sagen zum Wertekanon ihrer wasserscheuen bärtigen Väter und gutbürgerlichen Mütter; sie genießen die Lust, niemandes Kind zu sein unter so vielen Eltern.

"Herbert war zu jener Zeit der Mittelpunkt einer Gruppe von Freunden, die mir als all das erschienen, was am neuen Deutschland frei, aufgeschlossen und bewusst dem Neuen zugewandt war. Sie waren ,Kinder der Sonne'. Weit wichtiger als Politik, Geschäft und persönliches Vorwärtskommen war ihnen das ,Leben'. ,Leben' hieß Freundschaft, freie Liebe, Körperkultur, Natur und Sonne." So schrieb der englische Schriftsteller Stephen Spender 1980 über die mit seinem Freund Herbert List gegen Ende der Weimarer Republik an der Nord- und Ostsee verbrachte Zeit; denn wo ließ sich diese Freiheit der nachmals "verlorenen Generation" strahlender ausleben als im Sommer am Strand, beinahe nackt und unter freiem Himmel?

Der puritanisch erzogene, dem strengen System der Universität Oxford knapp entkommene Spender bewunderte, dass die Aufmerksamkeit des Freundeskreises auf Dinge gerichtet sei, "die außerhalb ihrer Person liegen und die sie miteinander teilen, als wären diese Dinge - ihr Leben im Freien - die Sonne - ihre Körper - Mittler der Leidenschaft. Sie sind Freunde, ohne einander mit dem zu quälen, was jeder für die wahre Natur des anderen hält." Und damit gesteht Spender doch zu, was er zunächst nicht wahrhaben möchte: dass dieses durch erotische Grenzüberschreitungen geprägte Leben auch eine politische Stellungnahme darstellte.

Lists Aktfotografien sind Gelegenheitsbilder: Sie vereinen Inszenierung und Schnappschuss, Urlaubserinnerung und Kunstwerk. Im Rückblick sind sie durch die geschichtliche Entwicklung, deren katastrophische Dimension List nicht vorausahnen konnte, für nicht wenige Betrachter mehr und anderes geworden: Dokumente einer historischen Sekunde, Erinnerung an die Chancen einer freien Gesellschaft, die als vermeintliches "System" 1933 abgewählt wurde. Mit Hitler kehrte das imperialistische 19. Jahrhundert zurück, bestialisiert durch die Folgen des Ersten Weltkriegs und angereichert mit Wahnideen. Die emanzipatorischen Potenziale des 20. Jahrhunderts - die Weimarer Verfassung war die liberalste ihrer Zeit - wurden niedergewalzt.

Junge deutsche Soldaten in dreckigen Uniformen, erschöpft, verstört, verwundet oder tot: solche Fotos vom Vernichtungsfeldzug der Wehrmacht in der Sowjetunion sind ins kollektive Gedächtnis eingegangen. Mit diesen Bildern im Kopf wird deutlich, warum die Fotos, die Herbert List unmittelbar vor dem Krieg von seinen Freunden, seinen Geliebten, von Zufallsbekanntschaften an den Stränden der Ostsee, des Mittelmeers, des Vierwaldstätter Sees gemacht hat, heute bei aller Bewunderung für seine Kunst den Betrachter auch traurig machen können. Denn wohl die meisten der auffallend schönen jungen Männer, die List abgelichtet hat, dürften im Zweiten Weltkrieg gefallen, in den Bombennächten umgekommen oder verstümmelt worden sein. Oder sie wurden, insoweit sie als Schwule aufgefallen und so, gemäß der mörderisch verschärften NS-Gesetzgebung, als "175er" straffällig geworden waren, deportiert beziehungsweise als Kanonenfutter in den Strafbataillonen an der Ostfront verheizt. Womöglich sind, das kann man nicht ausschließen, auf diesen Fotografien teilweise auch spätere Täter abgebildet.

Die Fotografien aus der von Spender beschriebenen Lebensepoche erzeugen mühelos jene Magie, einen Einklang von Innen und Außen, den Lists etwas angestrengte Inszenierungen surrealistischer Stillleben und Mythologica nur bedingt erreichen. Lists Kunstfotografie hält mit den Avantgarden seiner Zeit nicht Schritt, hinterlässt einen eher konservativen Eindruck. In den Aktaufnahmen hingegen ist realisiert, was der Fotograf selbst zur Magie notierte:

"Ich beabsichtigte, das Magische der Erscheinungen im Bilde zu erfassen, doch nicht immer gelang es mir, die Dinge so abzubilden, dass sich der hinter ihnen stehende Sinn offenbarte. Es zeigte sich, dass die Bilder, die ich spontan wahrnahm mit der Beglückung, als ob sie bereits lange in meinem Unterbewusstsein gelebt hätten, das heißt, bei denen ich das Magische wie im Vorübergehen erfasste, oft stärker waren als die sorgfältig komponierten."

Bruce Weber, Initiator der Calvin-Klein-Ästhetik, hat als einer der Ersten begriffen, dass die "Metaphysik" dieser Aufnahmen nicht darin besteht, abendländischen Bildungsballast zu beschwören, sondern Individuen zu zeigen oder auch einfache Dinge. Hierin liegt - nicht nur für Weber - die eigentliche "Magie", die Magie alltäglichen Glücks. "Sein 1936 entstandenes Foto von zwei Sonnenbrillen an einem See und das Foto von zwei gegeneinander gelehnten Fahrrädern am Strand von 1930 erscheinen wie Erinnerungen an einen Sommernachmittag mit einem Menschen, um den er sich bemühte."


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mare No. 40

No. 40Oktober / November 2003

Von Eckart Goebel

Eckart Goebel, Jahrgang 1966, ist Dozent für Komparatistik in Berlin. Er gehört zu den mare-Autoren der ersten Stunde. Zuletzt schrieb er in mare No. 38 über Lord Byrons Leidenschaft zum Schwimmen.

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Vita Eckart Goebel, Jahrgang 1966, ist Dozent für Komparatistik in Berlin. Er gehört zu den mare-Autoren der ersten Stunde. Zuletzt schrieb er in mare No. 38 über Lord Byrons Leidenschaft zum Schwimmen.
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