Ach, was haben wir für schöne Kerle hier“, sagt die alte Frau. Wie, was? Tatsächlich, sie meint uns. Also helfen wir ihr, die Sanddornbeeren, die Holunderbeeren, die Brombeeren in den Korb zu pflücken. Es geht flink voran; wenn aber unser Eifer zu erlahmen droht, sieht sie wieder hoch und legt nach: „Ach, so süße Kerlchen.“ Na gut, dann noch einen Korb, bis schließlich drei prallvolle Körbe dastehen, leuchtend vom orangen, roten, schwarzen Gold der Gegend. In Kaliningrad wird sie ihre Ernte an andere Großmütter verkaufen, 500 Rubel der Korb, einer bringt sie über den Tag. „Oi, oi, so hübsche Männer, molodzi, Prachtkerle.“ Wir arbeiten schweigend, voller Bewunderung für dieses Marketinggenie mit Kopftuch.
Ist er das, der legendäre Sowjetmensch, jener „Mensch neuen Typs“, von dem Lenin träumte und den Stalin „in Reinform gießen“ wollte? Und zwar hier ganz besonders, in der Oblast Kaliningrad, der Region Kaliningrad, die dem Westen so nah ist wie keine zweite. Kaliningrad, das war wie ein Schaufenster zum Kapitalismus. Wenn der hineinblickte, sollte er den vollkommenen Menschen erblicken.
Rund eine Million Menschen wohnen heute hier, auf einem Territorium, halb so groß wie Belgien. Bis zum Jahr 1945 gehörte es zu Ostpreußen, zusammen mit Gebieten im heutigen Polen und Litauen. Die Stadt Königsberg war das Zentrum samt Dom, Universität und Schloss. Im August ’44 warfen britische Geschwader Bomben darauf, wenig später eroberten russische Verbände die halb zerstörte Stadt. Die deutschen Soldaten, die Zivilbevölkerung flohen vor dem gerechten Zorn der Sieger, zumeist in den Westen. Russen aus allen Teilen der Sowjetunion wurden in der entvölkerten Oblast Kaliningrad angesiedelt. Orte wie Friedland, Kreuzburg oder Gilge hießen jetzt Prawdinsk (Wahrheitsstadt), Slawskoje (Ruhmort) oder Matrossowo (nach einem Kriegshelden). Eine deutsche Vergangenheit sollte es nicht mehr geben. Zu groß war die Schuld des deutschen Volkes, zu groß das Leid, das es über die Russen gebracht hatte. Nicht wie Phönix aus der Asche sollte sich der „Mensch neuen Typs“ erheben, sondern aus jungfräulichem, aus historisch unbeflecktem Land. Was die Bomben übrig gelassen hatten, erledigte die sowjetische Propaganda im Lauf der Jahrzehnte: Königsberg wurde ausgelöscht.
Das war auch der Grund, warum ich zu DDR-Zeiten kaum etwas über Königsberg erfuhr. Wenig über den Deutschen Orden und seine Burgen, die hier über Jahrhunderte aufragten; noch weniger über die Vertreibungen nach 1945. Einiges mehr zwar über Immanuel Kant, doch der lebte nicht in Königsberg, sondern, wie alle Philosophen vor Karl Marx, im Elfenbeinturm der Geschichte. Das meiste, was ich über Königsberg wusste, passte auf einen Teller, und es bestand aus Hackfleisch mit Kapern.
Nach der Wende standen plötzlich Schilder an der Rügener B96, die zur Fähre nach Kaliningrad wiesen. In dieses Land, das um die Ecke liegt und mir so nahe und gleichzeitig fremd war wie einst Westberlin. Zuerst stand allerdings „Baltijsk“ auf diesen Schildern, das ist die Hafenstadt am südlichen Rand der Oblast. Als sie noch Pillau hieß, zogen von hier aus, im Winter ’45, die Flüchtlingstrecks übers Eis der Ostsee nach Westen. Jahrelang fuhr ich daran vorbei, achtlos, denn es gab erst einmal exotischere Gegenden zu entdecken als Orte des verblichenen Bruderlands. Doch die Neugier wuchs, je öfter ich daran vorbeifuhr.
Baltijsk also sollte der Beginn der Reise werden. Ein Schild hatte es so bestimmt.
Lerchen jagen übers Wasser, Falken stehen über Wipfeln, die Bäume wachsen im Rund, wie ein Ring von Freunden. Das Beerengesträuch wuchert überall, auch zwischen dem zerschossenen Beton des einstigen deutschen Fliegerstützpunkts. Hier ist das Ende des Frischen Haffs. Und der Anfang unserer Reise.
Vor uns liegt der Hafen von Baltijsk. Von hier aus wollen wir die Küste entlang, bis hoch fast nach Litauen. Hinter uns geht es über Sand und lichten Wald nach Polen. Doch dort sollten wir nicht lang, mahnt die alte Beerenfrau, Anastasja Fjedorowna. „Ihr braucht einen propusk, einen Passierschein.“
Die Sache mit dem propusk erläutert uns wenig später Mara, die Polizistin. Wir sitzen im Café „Du und Ich“ am Fähranleger in Baltijsk. Die Mamsell hinterm Tresen schenkte uns Kaffee ein. Sie wartete, bis wir uns gesetzt hatten, dann rief sie die Miliz.
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Maik Brandenburg, Jahrgang 1962, war für mare schon in mehreren Ländern unterwegs. Doch nie hat er sich weniger weit weg von zu Hause gefühlt als während dieser Reise. Das lag vor allem an der Ostsee und ihrer Umgebung, die hier beinahe genauso aussehen wie auf Brandenburgs Heimatinsel Rügen. Sogar der Geruch ist der gleiche.
Dmitrij Leltschuk, geboren 1975 in Minsk, Weißrussland. Vor seinem Umzug nach Deutschland hat er jahrelang als freier Journalist gearbeitet. Seit 2007 arbeitet Leltschuk als freier Fotograf mit Schwerpunkt Reportagefotografie.
Vita | Maik Brandenburg, Jahrgang 1962, war für mare schon in mehreren Ländern unterwegs. Doch nie hat er sich weniger weit weg von zu Hause gefühlt als während dieser Reise. Das lag vor allem an der Ostsee und ihrer Umgebung, die hier beinahe genauso aussehen wie auf Brandenburgs Heimatinsel Rügen. Sogar der Geruch ist der gleiche.
Dmitrij Leltschuk, geboren 1975 in Minsk, Weißrussland. Vor seinem Umzug nach Deutschland hat er jahrelang als freier Journalist gearbeitet. Seit 2007 arbeitet Leltschuk als freier Fotograf mit Schwerpunkt Reportagefotografie. |
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Person | Von Maik Brandenburg und Dmitrij Leltschuk |
Vita | Maik Brandenburg, Jahrgang 1962, war für mare schon in mehreren Ländern unterwegs. Doch nie hat er sich weniger weit weg von zu Hause gefühlt als während dieser Reise. Das lag vor allem an der Ostsee und ihrer Umgebung, die hier beinahe genauso aussehen wie auf Brandenburgs Heimatinsel Rügen. Sogar der Geruch ist der gleiche.
Dmitrij Leltschuk, geboren 1975 in Minsk, Weißrussland. Vor seinem Umzug nach Deutschland hat er jahrelang als freier Journalist gearbeitet. Seit 2007 arbeitet Leltschuk als freier Fotograf mit Schwerpunkt Reportagefotografie. |
Person | Von Maik Brandenburg und Dmitrij Leltschuk |