Sklaven zur See: Die starken schwachen Männer

So lange es Seefahrt gibt, kämpfen Matrosen gegen Sklaverei, Ausbeutung und Rechtlosigkeit. Mit wenig Erfolg. Seit 2006 sorgt ein Abkommen für humane Arbeitsbedingungen

An einem gewöhnlichen Dienstagabend steht der Indonesier S. vor dem Schwarzen Brett der „Oase“, liest einen ausgehängten Zettel in englischer Sprache und fällt in sich zusammen. Obwohl er seine Aufgewühltheit nicht verbergen kann, dreht er sich auffallend vorsichtig um. Mit einem Kopfnicken zitiert er den Kollegen herbei. Die anderen aus der Crew sitzen an zwei Tischen verteilt, essen Chips und trinken Beck’s Bier. Manche schreiben Mails am PC, zwei spielen Billard.

„Sind Sie ITF-Inspektor?“, flüstert S. Mein Kopfschütteln macht ihn ratlos. „Sind vielleicht ITF-Inspektoren hier?“ Ich wisse es nicht, flüstere ich. „Haben Sie eine Telefonnummer von ITF-Inspektoren?“ In diesem Moment kommt Ernst-Otto Oberstech aus seinem Büro, Diakon und Leiter der Seemannsmission „Oase“ in Stade-Bützfleth.

„Ich werde betrogen“, flüstert S. Er habe Angst vor dem Kapitän. Der mache gemeinsame Sache mit dem Reeder. Er wisse nicht, ob der Kapitän auch hier sei. Man müsse als Seemann heute sehr vorsichtig sein, die schwarze Liste und dergleichen. Oberstech versteht. Wer einmal als aufmüpfig bekannt ist, erhält nie wieder einen Job. Seeleute, die zum Arbeitskampf aufrufen, gelten als Verräter; Rädelsführer, die einen schlecht organisierten Arbeitskampf verlieren, können meist auf immer einpacken. Wie eine Brandmarke tragen sie den Vermerk des Kapitäns in den Beurteilungen ein Leben lang mit sich herum. Sie sind quasi vorbestraft.

Oberstech und S. steigen in den VW-Bus der Mission und fahren zu dem Massengutfrachter „P.“, der seit zwei Tagen im Hafen von Stade festgemacht hat. Mit dem Arbeitsvertrag von S. kehren sie zurück.

S. ist Koch, 35 Jahre alt und seit drei Monaten auf See. Sein Vertrag verpflichtet ihn für insgesamt acht Monate. Je Monat erhält er 887 US-Dollar Heuer. Laut ITF-Vertrag stünden ihm 1715 US-Dollar zu. So steht es auf der ITF-Lohnliste, die S. am Schwarzen Brett entdeckt hat. Sie liegt den Standardverträgen der ITF zugrunde.

Oberstech kopiert den „assignment letter“ von S. und ruft die ITF-Vertretung in Hamburg an. ITF ist die weltweit gängige Abkürzung für Internationale Transportarbeiter-Föderation, ein Zusammenschluss von über 600 Transportarbeitergewerkschaften in 135 Ländern. Die ITF, 1896 in London gegründet, beschäftigt 129 Schifffahrtsinspektoren in Häfen von weltweit 42 Staaten und vertritt rund 193000 Seeleute. Für viele von ihnen ist sie die einzige Zuflucht und oft die letzte Rettung, weil die ITF mächtig ist und bei Reedern gefürchtet.

Wenn der Massengutfrachter „P.“ in Kürze im Hafen Tokio einlaufen wird, hat Hamburg Tokio bereits benachrichtigt, und die ITF-Inspektoren dort stehen parat, und auch in den ITF-Büros in Thailand weiß man Bescheid, in Rotterdam, Antwerpen, überall dort, wo die „P.“ festmachen wird, weil die Welt jetzt vernetzt ist. Jede Beanstandung, jede Verletzung technischer oder sozialer Mindeststandards wird sofort in einer nicht kommerziellen, von der Europäischen Union verwalteten Datenbank vermerkt und kann von jedem auf der Welt zu jeder Zeit online über www.equasis.org, Link „Ship search“, Link „Ship inspection“ eingesehen werden. Kein Schiff der Weltflotte entkommt der digitalen Revolution. Die ITF wacht über die sozialen und rechtlichen Standards auf See. Ihre Inspektoren kämpfen gegen die Sklaverei auf dem Meer, gegen Billigflaggen, Ausbeutung, Misshandlung und Benachteiligung des schwächsten Gliedes der globalen Schifffahrt: des Menschen.

Er arbeite täglich zwölf Stunden, flüs-tert S. Mit den 887 US-Dollar seien alle Extras, alle Überstunden und alle Sonntagsdienste abgegolten. Nein, versichert seien sie nicht. Und die Familie? Auch nicht.

Da klopft einer der jungen Indonesier von draußen an das offene Fenster von Oberstechs Büro: Achtung, der Kapitän! S. beginnt zu zittern, starrt zur Tür, steht sofort auf, geht in den Gemeinschaftsraum, setzt sich zu den anderen und öffnet ein Bier. Wer weiß, ob die Malaysier oder Bangladescher es dem Kapitän, einem indonesischen Landsmann, stecken, dass S. sich beklagt hat; und wenn der Kapitän dem Reeder davon erzählt, käme S. vermutlich auf die schwarze Liste.

Oberstech sendet das Fax. „Danke“, sagt S. immer wieder, „danke.“ Heute werden 90 Prozent des Welthandelsvolumens über See abgewickelt, und der Welthandel wächst jährlich um zwölf Prozent. Seit Chinas Magen knurrt und das Reich seinen Hunger nach Erfolg und Selbstverwirklichung zu stillen begonnen hat, steigen die Zahlen monatlich. Nie ging es der Schiffswirtschaft besser, hört man hier wie dort, die Werften seien ausgebucht. In den vergangenen drei Jahren sind 6500 neue Schiffe zugelassen worden, die Frachtraten um über 100 Prozent gestiegen. Der Schiffbau boomt, die Reeder frohlocken, Spekulanten investieren. Und der Mensch, die Ethik, die soziale Sicherheit? In einer Ära, da der globalkapitalistische Markt alle Grenzen obsolet macht, da der Wettbewerb ökonomische Spielräume nur noch bei den Personalkosten zulässt und auf der Jagd nach senkbaren Ausgaben billigere Arbeitskräfte durch noch billigere ersetzt werden, werden Kriege, Ängste, Unwissen, wirtschaftliche Not und unterschiedliche Gehaltsgefüge der Heimatländer gnadenlos ausgenützt.


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mare No. 68

No. 68Juni / Juli 2008

Von Christian Schüle und Stephanie Sinclair

Christian Schüle, Jahrgang 1970, hat in München und Wien Philosophie und Politik studiert. Er lebt als Autor, Essayist und Reporter in Hamburg. Seine Texte wurden mehrfach ausgezeichnet. Sein jüngstes Buch, Türkeireise, erschien 2006 im Malik-Verlag.

Die Fotografin Stephanie Sinclair wird repräsentiert von der Agentur VII Network und lebt im libanesischen Beirut. Sie begann ihre Karriere bei der „Chicago Tribune“, wo sie nach fünf Jahren kündigte und mit der Kamera in den Irakkrieg zog. Heute arbeitet sie unter anderem für Geo, Stern und das New York Times Magazine.

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Vita Christian Schüle, Jahrgang 1970, hat in München und Wien Philosophie und Politik studiert. Er lebt als Autor, Essayist und Reporter in Hamburg. Seine Texte wurden mehrfach ausgezeichnet. Sein jüngstes Buch, Türkeireise, erschien 2006 im Malik-Verlag.

Die Fotografin Stephanie Sinclair wird repräsentiert von der Agentur VII Network und lebt im libanesischen Beirut. Sie begann ihre Karriere bei der „Chicago Tribune“, wo sie nach fünf Jahren kündigte und mit der Kamera in den Irakkrieg zog. Heute arbeitet sie unter anderem für Geo, Stern und das New York Times Magazine.
Person Von Christian Schüle und Stephanie Sinclair
Vita Christian Schüle, Jahrgang 1970, hat in München und Wien Philosophie und Politik studiert. Er lebt als Autor, Essayist und Reporter in Hamburg. Seine Texte wurden mehrfach ausgezeichnet. Sein jüngstes Buch, Türkeireise, erschien 2006 im Malik-Verlag.

Die Fotografin Stephanie Sinclair wird repräsentiert von der Agentur VII Network und lebt im libanesischen Beirut. Sie begann ihre Karriere bei der „Chicago Tribune“, wo sie nach fünf Jahren kündigte und mit der Kamera in den Irakkrieg zog. Heute arbeitet sie unter anderem für Geo, Stern und das New York Times Magazine.
Person Von Christian Schüle und Stephanie Sinclair