Sinn im Sand

Die Natur schenkt uns bisweilen Ansichten, die wir nicht für das Werk des Zufalls halten wollen. Hier am Tropenstrand war jedenfalls ein winziger Krebs sehr fleißig

Rätselhafte Muster erscheinen bei Niedrigwasser an den Küsten der Tropen, in Australien, in Thailand, im indonesischen Archipel. Sie bestehen aus unendlich vielen, knapp erbsengroßen Sandkügelchen, die in immer neuen Formationen auftauchen. Wir erkennen Fächer, den Abdruck einer Muschel, einen Schmetterling, einen Ameisenbär, das Fragment eines Zahnrads, einen Anker. Oder handelt es sich doch eher um Entwürfe für den Bau eines Labyrinths? Es fällt uns nicht schwer, die Muster als Gruß einer höheren Intelligenz zu interpretieren, als eine Art mariner Rohrschachtest oder eine übersehene Variante der außerirdischen Getreidekreise. Steckt eine Botschaft in den zarten Reliefs? Leider ist nirgends ein Urheber zu sehen, den wir nach ihrem Sinn fragen könnten.

Die Lösung findet sich, natürlich, im Internet, wo das Rätsel der Kunst im Sand nicht wenige umtreibt. Unter Fachleuten heißt die Gattung der Kreaturen, die sie schafft, Scopimera, es sind kleine Krebse, die sie in Australien auf den fröhlichen Namen „sand bubbler“ getauft haben. Die deutsche Übersetzung, gleich ernsthafter, lautet Sandkugelkrebs. Warum also formt er Kugeln, dieser Krebs, wieso Muster?

Er denkt sich nichts dabei, meinen die Biologen. Bei Ebbe gräbt er sich aus dem Sand ans Licht, um zu fressen. Wie mit einem Löffel schaufelt er sich Sand ins Maul, bis er einen schönen runden Klops zusammen hat. Dann leckt und saugt er alles, was die Gezeiten an organischer Substanz am Strand deponiert haben, von den Sandkörnern ab. Ist der krümelige Kloß ratzeputz blank geschleckt, tritt der Krebs ihn mit den Beinen unter dem Bauch nach hinten durch – und schiebt sich die nächste Portion in den Mund.

Fünf Sekunden, die Zoologen haben die Zeit gestoppt, braucht er je Kugel, und die Eile macht doppelt Sinn: Zum einen muss er sehr viele Klopse putzen, wenn er nicht hungern will, und zum anderen mag er nicht mit vollem Maul von seinen Feinden überrascht werden. Denn wenn Gefahr naht, flitzt er blitzschnell wieder in sein Erdloch.

Deshalb darf die Entfernung zu seiner Höhle auch nie zu weit werden. Sobald er eine 30 Zentimeter lange Spur von Klöpsen gelegt hat, eilt er zurück zu seinem Bau und fängt eine neue Reihe an. Fleißig putzt er so den Sand, er saugt sich voran, sprintet zurück, gräbt aufs Neue los, aber nie zu weit, bis im Sand seine ganz eigene Handschrift zu erkennen ist.

Ob er bei jeder Ebbe dasselbe Muster malt? Schwer zu sagen, er ist nicht allein, sondern einer von vielen tausend, die hier hausen. Und wie kommt es zu den Sackgassen im Labyrinth, wie zur Schnauze des Ameisenbärs, zu den Flunken des Ankers? Da hat nur jemand die Schlemmerei gestört – und uns ein Bild geschenkt, das die Fantasie weckt.

mare No. 64

No. 64Oktober / November 2007

Von Olaf Kanter und Reinhard Dirscherl

Olaf Kanter, geboren 1962, hat Anglistik und Geschichte studiert. Bei der Zeitschrift mare betreute er bis Ende 2007 die Ressorts Wissenschaft und Wirtschaft. Seit 2008 ist er Textchef im Ressort Politik bei Spiegel Online. Er lebt in Hamburg.

Reinhard Dirscherl, geboren 1964, lebt und arbeitet als freiberuflicher Natur- und Unterwasserfotograf in München. Seine fotografischen Ambitionen tobt der gebürtige Oberpfälzer mit Tauchgerät und Unterwasserkamera seit 1989 in fast allen Weltmeeren und in den kühlen Gebirgsseen der Alpen aus. Mehr als 200 nationale und internationale Magazine veröffentlichten bereits seine Artikel und Fotos.

Mehr Informationen
Vita Olaf Kanter, geboren 1962, hat Anglistik und Geschichte studiert. Bei der Zeitschrift mare betreute er bis Ende 2007 die Ressorts Wissenschaft und Wirtschaft. Seit 2008 ist er Textchef im Ressort Politik bei Spiegel Online. Er lebt in Hamburg.

Reinhard Dirscherl, geboren 1964, lebt und arbeitet als freiberuflicher Natur- und Unterwasserfotograf in München. Seine fotografischen Ambitionen tobt der gebürtige Oberpfälzer mit Tauchgerät und Unterwasserkamera seit 1989 in fast allen Weltmeeren und in den kühlen Gebirgsseen der Alpen aus. Mehr als 200 nationale und internationale Magazine veröffentlichten bereits seine Artikel und Fotos.
Person Von Olaf Kanter und Reinhard Dirscherl
Vita Olaf Kanter, geboren 1962, hat Anglistik und Geschichte studiert. Bei der Zeitschrift mare betreute er bis Ende 2007 die Ressorts Wissenschaft und Wirtschaft. Seit 2008 ist er Textchef im Ressort Politik bei Spiegel Online. Er lebt in Hamburg.

Reinhard Dirscherl, geboren 1964, lebt und arbeitet als freiberuflicher Natur- und Unterwasserfotograf in München. Seine fotografischen Ambitionen tobt der gebürtige Oberpfälzer mit Tauchgerät und Unterwasserkamera seit 1989 in fast allen Weltmeeren und in den kühlen Gebirgsseen der Alpen aus. Mehr als 200 nationale und internationale Magazine veröffentlichten bereits seine Artikel und Fotos.
Person Von Olaf Kanter und Reinhard Dirscherl