Nein, vergesen konnte sie nie. Wie auch? „Schanghai ist in mir“, sagt Sonja Mühlberger. Manchmal sind es Details, die sie wiedererkennt: ein roter Hydrant an einer Straßenkreuzung, ein Waschbecken an einer Häuserfassade, ein achtlos abgestellter Toilettenkübel aus Holz. Juden durften damals nicht fotografieren, deshalb hat sie all die Bilder jener Zeit in ihrem Kopf.
Jetzt, mehr als 60 Jahre später, steht sie da, in Schanghai, auf dem Bund, der Uferpromenade des Huangpu-Flusses. Es ist der berühmteste Ort der Stadt. Drüben am anderen Ufer, in Pudong, ragen Wolkenkratzer um die Wette. Der gewaltigste Bau ist der Fernsehturm, der auf drei Beinen über der Skyline thront.
Der Ausblick zieht die Menschen magisch an. Es ist laut, es ist eng, zu jeder Tageszeit. „Ich finde es fantastisch“, sagt Sonja Mühlberger. Als das Ghetto von Schanghai 1945 aufgelöst wurde und die Juden sich frei in der Stadt bewegen durften, verbrachte sie hier auf dem Bund gerne die Sonntage mit ihren Eltern. „Ich vermisse nur die Hausboote; sie lagen so romantisch zu Dutzenden am Ufer.“ Auf ihnen wohnten einst sonnenverbrannte, zerlumpte Chinesen, die sich kein Haus leisten konnten. Wo jetzt die Bürotürme stehen, gab es nur Felder, Fabriken und braches Land. Die Zeiten haben sich geändert.
Und doch spürt Sonja Mühlberger eine sonderbare Vertrautheit, wenn sie durch die Stadt spaziert. Es ist ihr vierter Besuch in Schanghai seit ihrer Rückkehr nach Deutschland im Jahr 1947. Die vergangenen Jahrzehnte hat Sonja Mühlberger als Lehrerin in Berlin verbracht, sie hat geheiratet, zwei Kinder bekommen, ein ganz normales Leben in der DDR gelebt. Doch wie sie sich jetzt durch Schanghai bewegt, mit kurzen, schnellen Schritten, die Handtasche lässig über der Schulter baumelnd, sieht es so aus, als sei sie nie weg gewesen.
Erblickt sie ein Stück Vergangenheit, bleibt sie stehen, Worte sprudeln aus ihr heraus, ihre Hände immer in Bewegung, und für einen Moment ist sie wieder das siebenjährige Mädchen, voller Energie, voller Neugierde, ein quirliges, lebensfrohes Wesen. Plötzlich ist alles wieder da: der Vater, wie er in einem kargen Raum irgendwo in Schanghai sitzt und Eier sortiert; die Mutter, die zu Hause näht, stopft, flickt; und Sonja selbst, wie sie bei jeder Gelegenheit stolz ihren Namen buchstabiert: „Sonja Krips. K-R-I-P-S.“ „Das Leben in Schanghai war hart. Es sind trotzdem schöne Erinnerungen“, sagt sie.
Am 29. März 1939 betreten Hermann und Ilse Krips in Genua die Gangway zur „Conte Biancamano“, einem italienischen Schiff der Lloyd-Triestino-Schifffahrtsgesellschaft, er 28-jähriger Kaufmann, sie 20-jährige Schneiderin. Sie lernten sich im jüdischen Sportverein Schild in Frankfurt-Eschersheim kennen. Erst vor Kurzem haben sie geheiratet, doch die bevorstehende Fahrt nach Schanghai ist keine Hochzeitsreise, sondern eine Flucht in die Freiheit.
Zu diesem Zeitpunkt haben die demokratischen Länder ihre Grenzen bereits geschlossen. Deutsche Juden ohne Geld, reiche Verwandte oder hervorragende Beziehungen sitzen fest, eingeschlossen in einem Land, das Juden in Konzentrationslager deportiert, jüdische Geschäfte plündert und Synagogen anzündet. Amerika? Palästina? Großbritannien? Schweiz? Unerreichbar für die meisten jüdischen Familien, auch für die Krips.
Schanghai ist die letzte verbliebene Chance, der Vernichtung zu entgehen. Man benötigt kein Visum, keine amtlichen Genehmigungen, keinen Nachweis über die finanzielle Unabhängigkeit, und eine Passkontrolle gibt es auch nicht. Ein sagenhafter Ort. Doch das Ende der Welt ist gefährlich, so hört man. Die Japaner, die mit den Deutschen verbündet sind, haben China angegriffen und halten seit 1937 Teile von Schanghai besetzt. An den Küsten tobt ein Krieg. Es kursieren Gerüchte, Schanghai sei eine Stadt ohne Recht und Gesetz, in der Verbrecher frei herumlaufen und ohne Angst vor Bestrafung Menschen töten.
Kriminalität, Prostitution, Korruption, Krankheiten – wie um Himmels willen soll man in so einer Stadt überleben? Hermann und Ilse Krips wissen es nicht. Doch die Aussicht auf Rettung treibt sie an. Ihre kleine Wohnung in Frankfurt am Main haben sie aufgegeben. Nun halten sie zwei Koffer, die kostbaren Ausreisepapiere und die Passagebilletts fest in der Hand. Hermann hat ein Wörterbuch dabei, „Englisch in 10 Tagen“. Und Ilse trägt einen weiten Mantel. Sie ist schwanger.
Die Schiffssirenen des großen, weißen Luxusdampfers heulen auf, die letzten Passagiere gehen an Bord. Vor ihnen liegt eine vierwöchige Fahrt über Port Said, Sues, Aden, Colombo, Singapur, Hongkong nach Schanghai. Nach den Grausamkeiten, die die Juden in Deutschland erlebt haben, ist das Leben an Bord so friedlich und ruhig wie lange nicht mehr. Der Speisesaal ist mit edlem Holz ausgestattet, Kristallleuchter glitzern, die italienischen Stewards servieren das Essen in weißen Uniformen.
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Bei einer nächtlichen Taxifahrt durch Schanghai bemerkte Jan Keith, Jahrgang 1971, mare-Redakteur, dass der Fahrer am Steuer eingenickt war. Mangels Chinesischkenntnissen hielt Keith ihn mit lautstarken Geräuschen wach.
Vita | Bei einer nächtlichen Taxifahrt durch Schanghai bemerkte Jan Keith, Jahrgang 1971, mare-Redakteur, dass der Fahrer am Steuer eingenickt war. Mangels Chinesischkenntnissen hielt Keith ihn mit lautstarken Geräuschen wach. |
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Person | Von Jan Keith |
Vita | Bei einer nächtlichen Taxifahrt durch Schanghai bemerkte Jan Keith, Jahrgang 1971, mare-Redakteur, dass der Fahrer am Steuer eingenickt war. Mangels Chinesischkenntnissen hielt Keith ihn mit lautstarken Geräuschen wach. |
Person | Von Jan Keith |