„Sie nannten ihn Tuan Jim“

In Singapur begegnet Joseph Conrad dem Mann, der ihn zu seiner berühmtesten Romanfigur inspiriert: Lord Jim

Für die Weissen im Küstenhandel und die Schiffskapitäne war er einfach Jim – nichts weiter. Er hatte natürlich auch einen anderen Namen, aber er war darauf bedacht, dass dieser nicht laut wurde. Sein Inkognito sollte nicht eine Persönlichkeit verbergen, sondern eine Tatsache. Wenn die Tatsache das Inkognito durchbrach, verließ er unverzüglich den Seehafen, in dem er sich gerade aufhielt, und begab sich in einen anderen ... So begegnete man ihm im Laufe der Jahre nacheinander in Bombay, in Kalkutta, in Rangun, in Penang, in Batavia.“

Die „Tatsache“, vor der Jim, der Protagonist aus Joseph Conrads Jahrhundertwenderoman „Lord Jim“, jahrelang davonläuft und die er so besessen zu verbergen sucht, ist das gröbste Fehlverhalten, das einem Seemann vorgeworfen werden kann: In einem einzigen Moment der Feigheit hatte er sein Schiff und die ihm anvertrauten Passagiere im Stich gelassen.

Jim hatte als Erster Offizier auf der „Patna“ angeheuert, die von Singapur nach Penang im heutigen Malaysia ausgelaufen war, um dort 800 moslemische Pilger aufzunehmen und über den Indischen Ozean nach Dschidda zu bringen. Irgendwo auf hoher See war die „Patna“ mit einem unbekannten Objekt zusammengestoßen, das ein großes Leck in die Vorderluke schlug. Als auch noch ein Sturm aufzukommen drohte, hatten sich der Kapitän, sein Erster Offizier sowie sein Erster und Zweiter Ingenieur in der Annahme, dass die „Patna“ nicht mehr zu retten sei, heimlich im Beiboot davongemacht. Ihren Rettern von der „Avondale“ hatten die vier berichtet, die einzigen Überlebenden der untergegangenen „Patna“ zu sein. Doch wenige Tage später hatte ein französisches Kanonenboot die hilflos auf ruhiger See treibende „Patna“ gesichtet und in einen sicheren Hafen geschleppt. So war die „Tatsache“ ans Licht gekommen; ein Seefahrtsgericht „in einem östlichen Hafen“ entzog den vieren wegen „völliger Missachtung ihrer klaren Pflicht“ die Patente.

„Ich kann meinen Lesern versichern, dass Jim nicht das Produkt kalter abseitiger Überlegung ist. Er ist auch nicht eine Figur aus nördlichen Nebeln“, schrieb Joseph Conrad in der „Vorbemerkung des Autors“ zu seinem „Lord Jim“: „Eines schönen Sommermorgens sah ich seine Gestalt in der gewöhnlichsten Umgebung einer Hafenstadt des Ostens vorübergehen ... Meine Sache war es, mit aller Sympathie, deren ich fähig war, die rechten Worte für das zu finden, was er bedeutete.“

Tatsächlich hatte sich der Vorfall 20 Jahre, bevor Conrad die letzten Worte seines Romans schrieb, zugetragen. Am 17. Juli 1880 meldete „The Straits Times“ in ihrer täglichen Rubrik „Shipping Intelligence“ unter „Abfahrten“, dass das britische Dampfschiff „Jeddah“ unter dem Kommando Kapitän Joseph Clarks via Penang nach Dschidda ausgelaufen sei.

Den Schiffspapieren zufolge beförderte es neben der Mannschaft 992 Passagiere, moslemische Pilger auf dem Weg nach Mekka. Am 3. August geriet die „Jeddah“ in einen Orkan. Die Dampfkessel lösten sich aus ihren Verankerungen und wurden nutzlos. Schließlich schlug das Schiff in der schweren See leck, Wasser strömte in den Maschinenraum. Kapitän Clark verlor die Nerven, ließ ein Rettungsboot aussetzen und brachte sich mit seiner Frau sowie einem Teil der Mannschaft in Sicherheit, darunter sein Erster Offizier Augustine Williams – Conrads Jim. Die britische „Scindia“ nahm die „Schiffbrüchigen“ auf und brachte sie nach Aden, wo sie den Hafenbehörden versicherten, dass die „Jeddah“ untergegangen sei.


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mare No. 37

No. 37April / Mai 2003

Von Armin Wertz

Armin Wertz, geboren 1957, hat für Stern und Spiegel gearbeitet und als Korrespondent aus Mittelamerika und Israel berichtet. Heute lebt er als freier Autor in Indonesien. In mare No. 32 berichtete er über die Folgen der illegalen Goldgräberei auf Sulawesi.

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Vita Armin Wertz, geboren 1957, hat für Stern und Spiegel gearbeitet und als Korrespondent aus Mittelamerika und Israel berichtet. Heute lebt er als freier Autor in Indonesien. In mare No. 32 berichtete er über die Folgen der illegalen Goldgräberei auf Sulawesi.
Person Von Armin Wertz
Vita Armin Wertz, geboren 1957, hat für Stern und Spiegel gearbeitet und als Korrespondent aus Mittelamerika und Israel berichtet. Heute lebt er als freier Autor in Indonesien. In mare No. 32 berichtete er über die Folgen der illegalen Goldgräberei auf Sulawesi.
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