Sichtflug

Einfach immer am Land lang: die Route der Zugvögel über der Ostsee aus der Luft

Ein flaches Randmeer ist die Ostsee, sagen die Geologen. Das „mare nostrum“ des Nordens oder das Mittelmeer der Hanse nennen es die Historiker, und wenn sie Zeitgeschichtler sind, ist „Ostsee“ für sie vielleicht eine markige Kapitelüberschrift: „Das heißeste Wasser des Kalten Krieges“.

Ornithologen assoziieren mit der baltischen See etwas sehr Eigenes: das Paradebeispiel für „Leitlinienwirkung“. Das sperrige Wort bezeichnet die Neigung der Zug- vögel, sich an auffälligen landschaftlichen Großlinien zu orientieren. An Küsten zum Beispiel – und das umso lieber, wenn Futter- und Rastplätze am Weg liegen.

Die Südküste der Ostsee und die Inselverteilung der westlichen Ostsee bieten den weit ziehenden Vögeln gleich zwei große Zugstraßen an. Die Winterflüchtlinge der sibirischen Tundra, Finnlands und Kareliens orientieren sich an der baltisch-polnisch-deutschen Küste. Die Flugscharen aus Schweden und Norwegen nutzen die dänischen Inseln zwischen Schwedens Südspitze und Kieler Förde als „Trittsteine“ und Wegweiser. Beide große Achsen laufen über Schleswig-Holstein zusammen, ungefähr im Landkreis Plön. Für geborene Flieger ein Luftkreuz, wie es nur wenige auf der Welt gibt.

Ein günstiger geographischer Zufall wollte es, dass beide Leitlinien in der angeborenen Zugrichtung ihrer Benutzer liegen. Und das heißt für die beschwingten Langstreckler: Die Strukturen, die – aus ihrer Vogelperspektive betrachtet – deutlich hervortreten, verstärken und bestätigen genau das, was man als Zugvogel an grundlegendem Richtungsgefühl sowieso im Blut hat: Prima, du bist auf dem richtigen Weg!, sagt die Küstenlinie.

Im Verlauf beider Zughauptachsen gibt es „hot spots“ – Kulminationspunkte, an denen der Strom an Vogelleibern zu bestimmten Zeiten, Tagen, Stunden düsenartig zusammengepresst wird. Wonnepunkte der Vogelbeobachter; Ausrufezeichen auf der Weltkarte der Ornithologie; Festspielorte des großen Freilufttheaters, das die Natur in Herbst und Frühjahr veranstaltet.

Einige Punkte laden ganz besonders ein: Da ist zum einen Rybatschi, berühmt geworden als Rossitten, das auf der Kurischen Nehrung nordöstlich von Kaliningrad, dem ehemaligen Königsberg, liegt; dann das Dörfchen Kloster auf Hiddensee; Falsterbo, die Südspitze Schwedens, und schließlich der Landkreis Plön; in dieser Reihenfolge.

Am besten, man nähert sich der Kurischen Nehrung wie ein Teil der Vögel, die, im Herbst aus Sibirien und Ostskandinavien kommend, die Landzunge ansteuern. Nicht alle überspringen bei der litauischen Hafenstadt Klaipeda, dem ehemaligen Memel, die schmale Öffnung, durch die das Haff Verbindung zum Meer hat. Ein nicht unerheblicher Teil schwingt sich über eine Landnase hinüber auf den 90 Kilometer langen sandigen Landstreifen.

Die spitz zulaufende Halbinsel Ventes Ragas, die sehr zu Recht Windenburger Ecke hieß, konzentriert die Vogelschwärme zum Punktstrahl, und so war es nur konsequent, hier im Jahr 1929 eine Außenstation der Rossittener Vogelwarte einzurichten.

Der Leuchtturm auf der Landspitze, von dem aus damals gezählt – oder richtiger: geschätzt – wurde, ist heute ein litauisches „Technikdenkmal“, seewärts buntscheckig genagt von Eis und Salzwind. Die Wissenschaft dieser Tage ist in einen eternitgrauen Zweckbau umgezogen. „Ornithological Station Ventes Ragas“ verkündet eine Tafel.

Hier wirkt Leonas Jezerkas, knorrig, knollennasig, stämmig. Ein Mann von gestern, meint man voreilig, wenn man seinem Standardvortrag lauscht. Der rollt in betulicher Frage-und-Antwort-Didaktik ab, als gelte es, eine unlustige Schulklasse frontal in Schach zu halten.

Doch das Genie des Mannes offenbart sich, wenn Jezerkas vor dem Haus seine Vogelfangeinrichtungen erklärt. Da sind nicht nur die riesigen Netzreusen, wie sie seit Beginn des 20. Jahrhunderts auch in Rossitten benutzt wurden, aufgehängt an 25 Meter hohen Masten, breit geöffnet und über 140 Meter spitz zulaufend wie riesige Zipfelmützen.

Jezerkas hat ein neues System entwickelt: In kleinen, labyrinthartigen Netzfallen wird der Aufprall der Schwärme sanft gebremst. Die Langstreckenflieger stauen sich schließlich in einem netzverhängten Kasten am Ende des Labyrinths. Dort können sie vorsichtig aus ihren Verstrickungen befreit, gewogen und beringt werden. Auch eine kurze Inspektion – Allgemeinzustand, Geschlecht, Alter – ist obligatorisch, ehe der kurze Zwangsaufenthalt beendet ist.

300000 Zugvögel passieren gegen Ende September, Anfang Oktober täglich die Landnase. Ein paar hundert Beringungen schafft ein eingespieltes Team unter Leitung des „Vogeldoktors“ an einem guten Tag.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 32. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 32

No. 32Juni / Juli 2002

Von Claus-Peter Lieckfeld

Claus-Peter Lieckfeld, Jahrgang 1948, lebt als freier Autor am Ammersee. Er veröffentlichte eine Sammlung von Tierporträts und mehrere historische Romane.

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Vita Claus-Peter Lieckfeld, Jahrgang 1948, lebt als freier Autor am Ammersee. Er veröffentlichte eine Sammlung von Tierporträts und mehrere historische Romane.
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