Waren sie fromm, die Nordmänner? Stand hinter den Naturgewalten, denen sie ausgeliefert waren, eine höhere Macht, die sich durch Gebete, frommen Singsang oder
Opfergaben milde stimmen ließ? Was erfahren wir aus der Völuspá, der Liederedda, die vor mehr als 1000 Jahren entstanden sein mochte? Wir kennen sie nur in Abschriften aus dem 13. Jahrhundert. Da waren die Götter der Wikinger nur noch Legende, von Christenmenschen erzählt und aufgezeichnet, in frommem Schauder über eine Religion am Rand des Abgrunds, die auf den Weltuntergang zusteuert.
Am Urgrund der nordischen Schöpfungsgeschichte herrschen Chaos und Finsternis. Ins gähnende Nichts schieben sich Eisströme aus dem Norden und glühende Feuerwalzen aus dem Süden. Zischend treffen sie aufeinander, und daraus entsteht der Sage nach der Riese Ymir. Bei ihm ist Audhumbla, die Urkuh. Er trinkt von ihrer Milch. Derweil leckt sie Eis von salzigen Steinen. Und siehe da, plötzlich legt ihre Zunge die Haare eines Mannes frei. Am zweiten Tag ist der Kopf zu sehen und am dritten Tag ein ganzer Kerl, groß, stark und schön von Angesicht. Sein Name ist Búri. Mit ihm erwacht die nordische Götterwelt zum Leben. Aber wie sieht diese Welt aus! Die Liederedda raunt: „Urzeit war es, da Ymir hauste: Nicht war Sand noch See noch Salzwogen, nicht Erde unten, noch oben Himmel, Gähnung grundlos, doch Gras nirgends.“
Eine Bluttat macht diesem Urzustand ein Ende. Búris Nachfahren, die Götter Odin, Vili und Vé, erschlagen den Urzeitriesen Ymir und erschaffen so die Welt. Aus seinem Fleisch entsteht die Erde, aus seinem Blut das Meer, aus seinen Zähnen Steine und Felsen. Sein Schädel wird zum Himmel, aus seinem Hirn steigen Wolken auf. Die ersten Denkblasen, wer weiß.
Wer ist der Herr des Himmels? Ist es Thor, der Donnergott mit dem Hammer, der es krachen lässt und Blitze schleudert und dessen Zorn die Wikinger besonders fürchten? Oder ist sein Vater Odin, althochdeutsch Wotan, Gottvater des nordischen Schöpfungsmythos? Auch er gilt als jähzornig und durchsetzungsfähig.
Die Welt will erobert werden. Reif- und Frostriesen stürmen durch die Polarnacht, und im Süden treiben schreckliche Feuerriesen ihr Unwesen. Mit Mühe versuchen die Wanen, ein gutartiges Göttergeschlecht, Ordnung ins Chaos zu bringen. Sie wachen über das Herdfeuer, den Ackerbau und die Fruchtbarkeit, halten ihre Hand über erdverbundenes Leben.
Aber die Wanen sind keine Kämpfernaturen, ein Schwachpunkt in der göttlichen Ordnung. Wie sollen sie mit all den Monstern und Riesen fertig werden, die inzwischen die Welt bevölkern? Und jetzt müssen sie sich auch noch gegen die kriegerischen Asen wehren. Es kommt zum Kampf. Gegen Odin mit seinem Speer, der jedes Ziel trifft, gegen den fürchterlichen Thor, dessen Hammer jeden Feind zerschmettert, haben sie keine Chance. Der Wanenkrieg endet mit einem Sieg der Asen und – zur Sicherung eines stabilen Weltfriedens – mit dem Austausch von Geiseln.
Die Wanen überlassen den Asen den Meeresgott Njörd und dessen Kinder, die Zwillinge Freya und Frey. Dafür rücken die Siegermächte den Asen Hönir und den weisen Riesen Mimir heraus. Der verspricht, im Tausch für ein Auge Odins, sein Wissen zur Verfügung zu stellen. Also opfert Odin ein Auge und wirft es in eine Quelle, um ewige Weisheit zu erlangen. Mimir wohnt an der Quelle und kann die Zukunft voraussagen.
Die Zukunft ist düster, eine von Tiefausläufern geprägte Schlechtwettermythologie, die auf eine Katastrophe zusteuert, denn die stolzen Götter sind sterblich, ihr Ende nah, und der Weltuntergang ist beschlossene Sache, er lässt sich allenfalls um eine Winzigkeit hinausschieben. Solange die Menschen ihren Toten die Nägel schneiden, verzögert sich nämlich der Bau von „Naglfar“, dem größten Schiff aller Zeiten, das aus den Finger- und Zehennägeln der Toten gezimmert ist und auf dem die Feinde der Götter zur letzten großen Schlacht heranbrausen. Der Tag wird kommen.
Stürmisch ist die See in der dunklen Mythenwelt des Nordens. Für Njörd, den Gott des Meeres, der Seefahrt und der Navigation, gibt es viel zu tun, denn er wird oft angerufen. Seine Kinder gedeihen prächtig und sind von überirdischer Schönheit. Frey, trefflichster unter den Asen, herrscht über Regen und Sonnenschein und das Wachstum der Erde. Er ist der Gott des Himmelslichts, sorgt für Fruchtbarkeit und Frieden. Seine zauberkundige Zwillingsschwester Freya, Göttin der Liebe, der Fruchtbarkeit und der Ehe, wird als herrlichste der Asinnen besungen. Sie leben zusammen wie Mann und Frau, wie sie es von ihren Eltern kennen, denn sie sind Kinder der Geschwisterliebe.
Bei den Asen wird Inzest nicht gern gesehen, deshalb befindet sich der seetüchtige Njörd bald mehr oder weniger unfreiwillig auf Freiersfüßen. Und das kam so: Eines Tages stürmt Skadi, die unglückliche Tochter eines Frostriesen, an den Hof von Asgard, wie das Himmelsreich der Asen heißt. Sie ist zornig, weil die Asen ihren Vater ermordet haben, und verlangt als Sühne erstens einen Mann und zweitens, dass die Asen sie, die Trauernde, zum Lachen bringen. Die Asen finden das lustig. Skadi darf sich einen Mann aussuchen, allerdings bekommt sie nur die Füße zu sehen.
Eine denkwürdige Castingshow beginnt. Welcher Gott hat die schönsten Füße? Skadi hofft auf Baldur, die Lichtgestalt, denn sie kommt aus einer Welt der Finsternis. Aber sie erwischt Njörd, den Gott des Meeres. Darüber kann sie gar nicht lachen, deshalb beraten sich die Asen, wie sie ihre zweite Forderung erfüllen können. Wie bringt man eine Trauernde, die noch dazu den falschen Mann erwischt, zum Lachen? Loki, der Listenreiche, hat eine Idee. Er lässt die Hosen runter, bindet seine Hoden an den Bart einer störrischen Ziege und beginnt mit einem naturgemäß recht albernen Tauziehen. Sogar Skadi muss lachen. Der Bann ist gebrochen, und wir erfahren viel über den Sinn der Wikinger für Humor.
Die Ehe von Skadi und Njörd geht leider schief. Sie haben vereinbart, die drei kurzen Sommermonate am Meer zu verbringen und die neun langen Wintermonate im unwirtlichen Trymheim, dem Familiensitz der Sturm- und Reifriesen. Doch Skadi findet wegen des Möwengeschreis am Meer keinen Schlaf, und Njörd kann sich nicht an das nächtliche Geheul der Wölfe gewöhnen. Möglich auch, dass der Meeresgott schnarcht. Eine Geschichte erzählt von den Töchtern des Riesen Ymir, die Njörds weit offenen Mund als Nachttopf benutzt hätten. Es kommt zur Trennung. Auch seine Kinder, das Geschwisterpaar Frey und Freya, bleiben nicht zusammen. Frey geht auf Brautschau. Die schöne Riesentochter Gerda hat es ihm angetan, will aber nichts von ihm wissen und verschanzt sich hinter einem Feuerwall. Sein Knecht, der getreue Skirnir, macht sie mit Drohungen und einigem Zauber gefügig.
Die Riesin Gerda macht eine gute Partie. Die alten Lieder rühmen die Schönheit des Paares, etwas ungelenke Skulpturen dieser Tage stellen den Gatten mit einem riesigen Penis dar. An Reichtümern mangelt es ihm nicht. Er fährt einen großen, von Ebern gezogenen Wagen und besitzt eine schicke Hochseeyacht. Sein Schiff „Skidbladnir“ lässt sich so klein falten, dass er es bequem in einem Beutel tragen kann, ist aber unter Vollzeug so groß, dass alle Götter in voller Rüstung darauf Platz finden. Das Wunderschiff hat immer Wind von achtern, egal in welche Richtung es gerade segelt, ein Meisterwerk des Zwergen Davlin und seines Albenteams.
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Emanuel Eckardt, Jahrgang 1942, hat sich in seinem Jugendbuch Troja. Ein göttliches Drama ausführlich mit griechischen Göttern befasst, aber auch in Magazinbeiträgen mit dem Nibelungenlied. An den Erzählungen der nordischen Götter beeindrucken ihn die poetische Kraft und das Drama vom Weltuntergang.
Vita | Emanuel Eckardt, Jahrgang 1942, hat sich in seinem Jugendbuch Troja. Ein göttliches Drama ausführlich mit griechischen Göttern befasst, aber auch in Magazinbeiträgen mit dem Nibelungenlied. An den Erzählungen der nordischen Götter beeindrucken ihn die poetische Kraft und das Drama vom Weltuntergang. |
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Person | Von Emanuel Eckardt |
Vita | Emanuel Eckardt, Jahrgang 1942, hat sich in seinem Jugendbuch Troja. Ein göttliches Drama ausführlich mit griechischen Göttern befasst, aber auch in Magazinbeiträgen mit dem Nibelungenlied. An den Erzählungen der nordischen Götter beeindrucken ihn die poetische Kraft und das Drama vom Weltuntergang. |
Person | Von Emanuel Eckardt |