Auf den ersten Blick wirkt die südsardische Insel Sant’Antioco wie die perfekte Idylle. Der Weg dorthin führt vorbei an rosaroten Flamingos. Im Hafen des gleichnamigen Hauptorts reihen sich weiß-blaue Fischerboote aneinander, die Straßen sind gepflastert, die Häuserfassaden bunt. Ein wunderbarer Urlaubsort im Süden mit felsigen Buchten und weißen Sandstränden. So weit, so gewöhnlich für Sardinien. Und dennoch berichten Journalisten aus aller Welt seit Jahrzehnten über diese Insel. Grund dafür ist die wohl bekannteste Frau unter den knapp 14 000 Einwohnern: Chiara Vigo.
Mai 2023. Es ist Nebensaison, aber in der Via Regina Margherita 168 geben sich Touristen die Klinke in die Hand. Ukrainer, Spanier und Italiener waren an diesem Morgen schon in Chiara Vigos Studio. Nun erzählt die 70-Jährige einer deutschen Reisegruppe vom Geheimnis der Muschelseide. Seit 28 Generationen werde das Wissen über das seltene Material aus dem Meer einzig in ihrer Familie von Großmutter zur Enkelin weitergegeben. Sie legt es den Menschen in die Hände, die es nicht spüren, so leicht ist es. Vigo zeigt, wie die starren Fäden elastisch werden. Dazu singt und summt sie und legt sie in eine geheime Flüssigkeit. Alle hängen an ihren Lippen und füllen am Ende eine Box mit Geldscheinen. Denn, so haben sie erfahren, die Meisterin der Muschelseide lebt allein von Spenden.
Muschelseide ist der gereinigte und gekämmte, für Textilarbeiten aufbereitete Faserbart der Edlen Steckmuschel Pinna nobilis. Im Sonnenlicht glänzen die Fäden wie Gold. Sie sind weich wie der Flaum auf dem Kopf eines Neugeborenen und dünner als ein menschliches Haar, aber ungleich robuster. Der zoologische Begriff für die Büschel aus seidigen, reißfesten Fasern ist Byssus. Sie werden von einer Drüse produziert, die sich im Fuß der Muschel befindet, und dienen ihr als eine Art Wurzel: Mit ihnen verankert sich das Tier am Meeresboden. Pinna nobilis ist die größte Muschel im Mittelmeer und dort endemisch. Doch einzig auf einer kleinen, sardischen Insel hat sich das Wissen um die Verarbeitung ihrer Byssusfäden bewahrt.
Gibt man Vigos Namen in Google ein, erscheinen 2,3 Millionen Treffer. Unzählige Medien haben ihr Beiträge gewidmet, darunter SBS Australia, „Die Welt“ und öffentlich-rechtliche TV-Sender Italiens wie der Schweiz. Sie alle sind voller Faszination und Anerkennung für die Letzte ihrer Art. „Es soll weltweit nur einen Menschen geben, der in der Lage ist, nach der seltenen ‚Meeresseide‘ zu tauchen, sie zu spinnen und herzustellen“, textete das US-amerikanische „Smithsonian Magazine“. „Die letzte Frau, die Muschelseide herstellt“, titelte BBC World.
„Wenn sie dir den in der Sonne flammenden Byssus zeigt und dich anlächelt, brauchst du sie nichts weiter zu fragen, um zu verstehen, wer sie ist“, schrieb die mittlerweile verstorbene Michela Murgia, eine der berühmtesten Intellektuellen Italiens. Bei der Unesco wurde Vigo zur Nominierung als Immaterielles Kulturerbe der Menschheit eingereicht. 2008 erhielt die „letzte Meisterin der Muschelseide“, wie sie sich selbst nennt, eine der höchsten Auszeichnungen des Landes. Ehe sie die Webstücke mit dem kostbaren Material aus dem Meer verschenke, arbeite sie jahrelang daran. „Was ich webe, gehört nicht mir, es gehört allen.“
Auf den ersten Blick also wirkt Sant’Antioco paradiesisch wie kaum ein anderer Ort, auch wegen Vigo. Auf den zweiten trügt der Schein – ebenso ihretwegen. „In diesem Raum wird nichts gekauft oder verkauft“ steht auf einem handgeschriebenen Zettel neben der Eingangstür ihres Studios. Zwei Tage lang hören wir, Fotograf und Autorin, wie sie diesen Satz mantraartig wiederholt. Wir sind Zeugen, als sie Touristen den „Eid des Wassers“ vorträgt, in dem sie schwört, das Meer zu respektieren und es nicht auszubeuten. Wir lauschen ihren Gebeten, als sie barfuß im Wasser steht.
Einen Monat später kehren wir nach Sant’Antioco zurück. Warum? Weil wir während unseres ersten Aufenthalts herausfinden, dass ihre Erzählung erfunden ist.
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Barbara Bachmann, Jahrgang 1985, freie Journalistin in Südtirol, war fasziniert vom goldenen Schimmer der Muschelseide – doch von Chiara Vigos Geschichten ließ sie sich nicht blenden.
Francesco Zizola, geboren 1962, Fotograf in Rom, wurde bereits mehrfach mit dem World Press Photo Award ausgezeichnet.
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| Vita | Barbara Bachmann, Jahrgang 1985, freie Journalistin in Südtirol, war fasziniert vom goldenen Schimmer der Muschelseide – doch von Chiara Vigos Geschichten ließ sie sich nicht blenden. Francesco Zizola, geboren 1962, Fotograf in Rom, wurde bereits mehrfach mit dem World Press Photo Award ausgezeichnet. |
| Person | Von Barbara Bachmann und Francesco Zizola |
| Lieferstatus | Lieferbar |
| Vita | Barbara Bachmann, Jahrgang 1985, freie Journalistin in Südtirol, war fasziniert vom goldenen Schimmer der Muschelseide – doch von Chiara Vigos Geschichten ließ sie sich nicht blenden. Francesco Zizola, geboren 1962, Fotograf in Rom, wurde bereits mehrfach mit dem World Press Photo Award ausgezeichnet. |
| Person | Von Barbara Bachmann und Francesco Zizola |