Segler am Strand

Wind ist der Treibstoff der Segelmobile

Noch zehn Sekunden, neun, acht, sieben, sechs...“ Die Gestalten in den bonbonfarbenen Overalls klappen die Visiere herunter, legen sich nach vorn, krallen ihre Hände in die Übersturzbügel der Wagen. Sechs Beaufort, die Segel zerren an den Schoten. Ruckartig senkt sich die rote Flagge. Wie Bobfahrer stemmen sie ihre Wagen auf die Piste. Zehn, zwölf Schritte – hopp auf die Achsplanke, Sprung ins Cockpit. Pinne greifen, Schot fieren, Fahrt aufnehmen. Segel langsam dichter holen, bis es steif steht wie ein Brett. In das Konzert aus sirrenden Seilblöcken, dumpf trommelnden Rümpfen und knirschenden Sandreifen mischt sich immer stärker das Heulen des Fahrtwindes. Voraus liegt eine breite Pfütze, die die Flut zurückgelassen hat. Fontänen schießen hoch, klatschen auf die Segel, zerstäuben in einer Wasserorgel. Regenbögen vibrieren.

Schon nach zwei Minuten sind die Segelwagen zu kleinen weißen Dreiecken geschrumpft. Langsam lösen sie sich in der diesigen Ferne auf. Irgendwo im Feld brettert Hansi Dibberts, Kreislaufspezialist aus Hamburg, über die Piste. Durchrüttelt vom ungefederten Fahrgestell, mit angespannten Nerven, der Puls steigend – mit dem Tempo. Genau dies hat der Arzt im Auge: Auf seinem Neopren-Ärmel blinken die Digitalziffern seines Satelliten-Navigators. 40... 60... 80... 100 Kilometer pro Stunde. Jetzt auf der spiegelglatten Bahn – das GPS lügt nicht – 110! Und das, ohne einen Tropfen Benzin oder eine Milliwattsekunde Strom zu schlucken.

Der naßkalte Westwind scheucht Regenböen über den Strand, die Rennleitung hat sich mit ihrem CB-Funkgerät in den rostigen Vereinsbus hinter der Startlinie zurückgezogen. Nach vier Minuten schnarrt es aus dem Äther: „Hans Werner ist durch!“ Die Meldung kommt von der Wendemarke, sechs Kilometer vom Start entfernt. Hans Werner Eickstädt, mehrfacher Europameister im „Land- und Sandsegeln“, führt mit Spitzen um 130 Stundenkilometer und wird seinen Vorsprung noch ausbauen. Der Weltrekord der Strandsegler liegt bei 152 km/h – so schnell läuft keine Segelyacht.

Wenn der Körper des Piloten im „Body“ des Wagens verschwunden ist, sind alle Theorien vergessen, Mensch und Maschine zur Einheit verschmolzen. Dann zählen blitzschnelles Kalkül, Gefühl und Erfahrung. Die Priele, Buckel, Pfützen, Rippelfelder und Sandkörnungen wechseln nach jeder Flut zwar ihre Lage und Grösse, aber wer das Zusammenspiel von Windrichtung, Jahreszeit, Wasserstand und Tidenstrom kennt, weiß, wo die Hindernisse lauern. Weniger berechenbar sind allerdings fremde Reviere und die Mitstreiter. Eickstädts Grundsatz lautet: „So schnell wie möglich – auch auf Umwegen – raus aus dem Pulk, Raum gewinnen!“ Aus dem Windschatten der anderen will jeder, aber keiner schafft es so gut wie Eickstädt. Hat er vielleicht technische Geheimnisse? Der Europameister lächelt: „Jeder kann sich meinen Wagen ansehen.“ Er rüstet ihn zwar laufend mit den neuesten Materialien nach, aber die allein erklären seinen Vorsprung nicht. Taktische Tricks? „Naja, an gewissen Tagen, bei bestimmtem Wetter und an speziellen Stränden...“ – da hält er sich vor dem Start bedeckt.

Bei Starkwind wie heute erwischt jeder rasch seinen Platz am Wind, und das Feld reißt früh auseinander. Die meisten Wagen sind geradeaus durch die große Pfütze gefegt. Eickstädt umfährt sie in großem Bogen, durchfetzt dafür mehrere kleine und liegt plötzlich überraschend vorn. Ein anderer bürstet durch den Kies, streift die Brandung, ein Rad steigt auf, und der Wagen fällt zurück. Schwenks auf der ganzen Strecke – jeder Pilot spürt seine Vorteile auf. Wo verliere ich weniger Tempo: da vorn auf dem Rippelfeld oder nebenan auf dem Weichsand? Mit voller Fahrt durch die Prielmulde einen Bruch riskieren oder lieber schräg anschneiden? Entscheidungen, die in Bruchteilen von Sekunden fallen müssen – und das aus einer Augenhöhe von einem halben Meter über dem Boden und hinter tropfnassem Visier. Noch vor dem Start stehen andere Entscheidungen an, solche die vor allem von Windstärke und Körpergewicht diktiert werden: Sandsäcke zu- oder abladen, Reifendruck optimieren, Mastneigung einstellen.

In Tempo, Technik und Takelage haben sich die Piloten der modernen Windgeschosse ein wenig von ihrem Urahnen entfernt: Italienische Archäologen fanden 1935 im ägyptischen Medinet Madi einen Tempel aus dem Jahre 87 vor unserer Zeitrechnung und darin ein zweitausend Jahre älteres Holzgestell mit zwei Achsen und einem Mastfuß: zwei Meter lang, 1,2 Meter breit, Achslänge 1,7 Meter. Die Tempelinschriften verrieten, wozu dieser Wagen diente: Der ägyptische König Amenemhet III. fuhr „in der Wüste mit Achsen und Segeln“. Die Ägypter sollen das Rad noch nicht gekannt haben, aber wer weiß – der Wind macht er-finderisch. Und er verwischt Spuren.

Die Kamele staunten auch vier Jahrtausende später nicht schlecht, als eine besondere Karawane ihre Wege kreuzte: die Sahara-Rallye 1967 durch Algerien und Mauretanien mit 24 Teilnehmern aus acht europäischen Ländern. Abgesteckt war sie für eine Strecke von 2500 Kilometern, doch wegen ungewöhnlicher Windrichtungen und Flauten, nach vielen Pannen und einem Sandsturm wurde aus ihr eine 32tägige Strapaze über 5000 Kilometer. Die zweite Rallye 1973 verlief ähnlich und war der letzte Versuch, die Sandsegelsportler fürs Touring zu gewinnen.

Strandreviere gibt es überall, wo Ebbe und Flut mit tonnenschwerer Brandungslast die Sandstrände zu betonharten Pisten plätten. Abhängig von Tidenhub und Strandneigung entstehen Bahnbreiten ab zwanzig, dreißig bis zu mehreren hundert Metern. Die Bahnpflege übernimmt das Meer. In Europa werden mehr als vierzig Strände besegelt. Die Nordsee legt vor Sankt Peter Ording bei Ebbe die vierzehn Kilometer lange und bis zu zwei Kilometer breite „Grosse Sandbank“ bloß, die zwei Stunden vor und nach Niedrigwasser befahren werden kann.

Krumm wie ein Bumerang, durchsetzt von Prielen, Weichsand, von wind- und wellengehöhlten Lochfeldern, gilt sie international als die spannendste Piste, auf der Allround-Talente gefragt sind. Zur Sommersaison wird sie allerdings durch den Tourismus begrenzt. Dieser verbannt die Flitzer von Borkum und Juist sogar ganz in die Wintersaison. In Sankt Peter Ording sind es die Ökologen: Sollten sie sich durchsetzen, müssen die Strandsegler ihr Revier mitten im Nationalpark Wattenmeer den noch selteneren Vögeln überlassen. Das geschützte Fiedervolk leide, wie es heißt, unter dem Reifenabrieb der Wagen. Außerdem liege die Sandbank unter der Einflugschneise der geschützten Eiderente. Clubchef Jochen Löhmann: „Wir haben lange mit den Naturschützern verhandelt. Am Ende haben die sich in die Wagen gesetzt und sind gefahren – seitdem ist Ruhe.“ Bis auf weiteres gilt eine Ausnahmegenehmigung.


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mare No. 11

No. 11Dezember / Januar 1998

Von Uwe Wandrey und Heike Ollertz

Uwe Wandrey, Jahrgang 1939, ist gelernter Schiffsingenieur. 1972 begründete er die Kinderbuchreihe Rotfuchs im Rowohlt Taschenbuchverlag. Jetzt lebt er als Buchautor und Journalist in Hamburg und auf der griechischen Insel Paros. In mare schrieb er zuletzt Gescheitert. Ein Essay über Träume und Trauma (in No. 9).

Heike Ollertz, Jahrgang 1967, lebt und arbeitet als freie Fotografin in Berlin. Ihr erster Kurzfilm, Der Staub der Stadt, lief in diesem Jahr auf der Berlinale. Für mare fotografierte sie zuletzt Jugendstil-Vasen mit Wassermotiven (in No. 8)

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Vita Uwe Wandrey, Jahrgang 1939, ist gelernter Schiffsingenieur. 1972 begründete er die Kinderbuchreihe Rotfuchs im Rowohlt Taschenbuchverlag. Jetzt lebt er als Buchautor und Journalist in Hamburg und auf der griechischen Insel Paros. In mare schrieb er zuletzt Gescheitert. Ein Essay über Träume und Trauma (in No. 9).

Heike Ollertz, Jahrgang 1967, lebt und arbeitet als freie Fotografin in Berlin. Ihr erster Kurzfilm, Der Staub der Stadt, lief in diesem Jahr auf der Berlinale. Für mare fotografierte sie zuletzt Jugendstil-Vasen mit Wassermotiven (in No. 8)
Person Von Uwe Wandrey und Heike Ollertz
Vita Uwe Wandrey, Jahrgang 1939, ist gelernter Schiffsingenieur. 1972 begründete er die Kinderbuchreihe Rotfuchs im Rowohlt Taschenbuchverlag. Jetzt lebt er als Buchautor und Journalist in Hamburg und auf der griechischen Insel Paros. In mare schrieb er zuletzt Gescheitert. Ein Essay über Träume und Trauma (in No. 9).

Heike Ollertz, Jahrgang 1967, lebt und arbeitet als freie Fotografin in Berlin. Ihr erster Kurzfilm, Der Staub der Stadt, lief in diesem Jahr auf der Berlinale. Für mare fotografierte sie zuletzt Jugendstil-Vasen mit Wassermotiven (in No. 8)
Person Von Uwe Wandrey und Heike Ollertz