Auf See und vor Gericht ist man in Gottes Hand. Es gibt kaum eine Situation, die das Ausgeliefertsein des Menschen an die Kräfte der Natur so drastisch erfahrbar werden lässt wie auf See. Seeleute waren und sind den Naturgewalten in besonderem Maß ausgeliefert. Diese existenzielle Erfahrung führte dazu, dass Glaube und religiöse Praxis an Bord eine zentrale Rolle spielten – vielleicht vergleichbar mit Bergleuten, die tief unter der Erde im Dunkeln nach Kohle oder Edelmetallen schürfen. Beide Berufsgruppen haben eine ganz eigene Form von Religiosität oder, noch mehr, Spiritualität entwickelt, die Trost und Hoffnung spenden soll. Wer kennt sie nicht, die zahlreichen Votivschiffe in den Kirchen an der See, gefertigt und aufgehängt als Dank für Rettung auf See oder überstandene Fahrten? Gott ist der Herr über die Elemente, und der Mensch, der ihnen schutzlos ausgeliefert ist, bedarf der Rettung aus Seenot. Nicht von ungefähr kennen wir daher den Begriff der „christlichen Seefahrt“, auch wenn kaum mehr nachvollziehbar ist, woher er stammt.
Religiöse Andachtsformen und der praktische Alltag auf der Seereise waren von jeher eng miteinander verflochten. Bereits gegen Ende des 16. Jahrhunderts tauchen erste Andachtsbücher speziell für Seeleute auf, in denen sich der Ausdruck findet. Manche vermuten, er sei aus dem Gegensatz zwischen den europäischen (christlichen) Kauffahrern und nordafrikanischen (also muslimischen oder, aus damaliger Sicht: heidnischen) Piraten entstanden, die erst die Schiffe aufbrachten, dann die Besatzung zu Sklaven machten, ehe diese teuer wieder freigekauft werden mussten. Daraus entstanden die sogenannten Sklavenkassen – aber das ist ein anderes Thema.
Weil aber die Seefahrer heilsbedürftig waren, entfaltete sich ein ganzer Reigen von Symbolen und Frömmigkeitsritualen. Christliche Erzählungen, insbesondere die von Schutzheiligen wie Nikolaus, Clemens, Maria (als Stella Maris), Brendan oder Christophorus, prägten die Rituale der Seefahrer. Die Legenden berichten von wundersamen Rettungen aus Seenot, der Besänftigung von Stürmen oder der sicheren Führung durch gefährliche Gewässer. Sie bestärkten den Glauben der Seeleute daran, dass göttlicher Beistand auf großer Fahrt sicher ist.
Besonders der heilige Nikolaus von Myra gilt als Schutzpatron der Seefahrer schlechthin, und viele Kirchen in den Küstenstädten sind nach ihm benannt. Seinen Ursprung hat die Verehrung in den Legenden von der Rettung einer Schiffsmannschaft im Sturm. Der heilige Clemens, Bischof von Rom, wurde wegen seines Martyriums mit einem Anker als Symbol dargestellt, und natürlich galt die Gottesmutter Maria, der Meeresstern „Stella Maris“ (Ergebnis eines Missverständnisses in der Umdeutung des ursprünglich hebräischen Namens), als geistlicher Beistand in jeglicher Gefahr. Der heilige Erasmus fand sogar Eingang in die Physik mit dem Elmsfeuer als Zeichen göttlichen Schutzes. Das Elmsfeuer wurde zu einem im wahrsten Sinn des Worts aufflackernden Sinnbild für den immerwährenden Beistand Gottes, der selbst in den dunkelsten Stunden erscheint. Die Heiligen der Seefahrt waren also ein innerer Kompass der Seeleute, eine stete geistliche Unterstützung, die Hoffnung und Sicherheit versprach.
Auch wenn man wenig über die Ursprünge des Begriffs weiß: Relativ klar ist, dass der Begriff „christliche Seefahrt“ sich lediglich für Handelsschiffe durchgesetzt hat, also in klarer Abgrenzung beispielsweise zur Kriegsmarine. Adam Westerman, Prädikant aus Stavoren in Friesland, veröffentlichte im 17. Jahrhundert dazu passend die Bücher „Christelijcke zee-vaert ende wandel-wegh“ und „Groote christelijke zee-vaert“ als Predigtbände.
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Der Publizist und Kulturwissenschaftler Professor Martin Lätzel, geboren 1970, ist Direktor der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek in Kiel. Ursprünglich aus dem Ruhrgebiet, wohnt er aus Liebe zum Meer seit mehr als zwei Jahrzehnten an der Ostsee. Zuletzt schrieb er in mare No. 167 einen Essay über „Schwimmen als spiritueller Akt der Selbstfindung“.
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| Vita | Der Publizist und Kulturwissenschaftler Professor Martin Lätzel, geboren 1970, ist Direktor der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek in Kiel. Ursprünglich aus dem Ruhrgebiet, wohnt er aus Liebe zum Meer seit mehr als zwei Jahrzehnten an der Ostsee. Zuletzt schrieb er in mare No. 167 einen Essay über „Schwimmen als spiritueller Akt der Selbstfindung“. |
| Person | Von Martin Lätzel |
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| Vita | Der Publizist und Kulturwissenschaftler Professor Martin Lätzel, geboren 1970, ist Direktor der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek in Kiel. Ursprünglich aus dem Ruhrgebiet, wohnt er aus Liebe zum Meer seit mehr als zwei Jahrzehnten an der Ostsee. Zuletzt schrieb er in mare No. 167 einen Essay über „Schwimmen als spiritueller Akt der Selbstfindung“. |
| Person | Von Martin Lätzel |