Seewörter in der Wörtersee

Unsere Sprache ist von Begriffen und Redensarten marinen Ursprungs stark geprägt – volle Punkte, gewissermaßen

Natürlich kann ich Deutsch!“ Die meisten fühlen sich als Herren der Lage, spricht man sie auf ihre Sprache an. Dabei ähnelt unser Verhältnis zu ihr dem zum Meer: Das scheinbar Beherrschte erweist sich plötzlich als nicht beherrschbar und durchaus bedrohlich. Kluge Leute sagen: „Nicht wir sprechen die Sprache, sie spricht uns.“ Auf See wie im Deutschen heißt es oft: „Mann über Bord!“ Ich war acht, als ich das erste Mal in einer Sprachflut unterging. Mit den Pardunen fing es an, ging weiter mit den Segelschifftypen und hörte mit den Rahen nicht auf. Mein Vater dozierte stundenlang. „Ich war Royalgast, wo musste ich also hin?“ Dies wenigstens konnte ich festhalten, bis heute. Mein Vater, ausgebildet 1935/36 auf dem Windjammer „Schulschiff Deutschland“, sensibilisierte mich so für die Sprache und die See. Dank ihm war mir klar, dass es nicht um das Saufen ging, wenn jemand meinte, er müsse „volle Pulle“ arbeiten, sondern um das Pullen. Schließlich hatte er von den Rennen der Schulschiffeleven mit den Beibooten erzählt. Auf das Kommando „Pullt!“ zogen sie die Riemen kraftvoll durchs Wasser.

Die Wörter der See treiben unbemerkt und zahlreich durchs Deutsche. Politiker warnen vor Untiefen und wollen „ins richtige Fahrwasser“ gelangen. Wissen sie, wovon sie da reden? Immerhin passen die Begriffe gut zusammen, schützt die markierte Route des richtigen Fahrwassers die Schiffe doch vor drohenden Untiefen, womit in der Seefahrtssprache Flachwasser gemeint ist: Sandbänke, trügerische Stellen, an denen der Grund kaum von Wasser überspült ist. Auch die verbreitete Bedeutung „sehr große, unergründliche Tiefe“ ist übrigens seit Hunderten Jahren korrekt, wenngleich nur unter Landratten. Seltsam falsch klingt die Wendung „jemanden ausbooten“, denn eigentlich hieß das in der Seefahrt nur, Passagiere mit kleineren Booten an Land oder zu den Stegen zu bringen. Im allgemeinen Sprachgebrauch dagegen bedeutet es, jemanden böswillig auszuschließen und ihm dadurch die erwarteten, berechtigten Vorteile vorzuenthalten. Man kann sich vorstellen, wie der Volksmund das Wort verstand: als werde da jemand aus dem gemeinsamen Boot geworfen.

Unwillkürlich fällt einem der Spruch gegen die Aufnahme Asylsuchender ein: „Das Boot ist voll.“ 1942 sprach Eduard von Steiger von der Schweiz als Rettungsboot inmitten einer gewaltigen Schiffskatastrophe, das einfach nicht alle Ertrinkenden aufnehmen könne, wolle es nicht selbst untergehen. Die Schweizer wussten jedenfalls, dass sie mit den Flüchtlingen nicht „im gleichen Boot saßen“, ein Ausdruck, der erst nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Angloamerikanischen zu uns kam.

Seesprüche und -wendungen ziehen sich durch unsere Sprache wie ein „roter Faden“, und dieser selbst gehört dazu. Johann Wolfgang von Goethe schenkte uns den Ausdruck. In seinen „Wahlverwandtschaften“ beschreibt er, wie die britische Marine ihr Tauwerk vor Diebstahl schützte: In jedes Seil ließ sie eine „Seele“, so nennt man den Zentralfaden, von roter Farbe einflechten. Den konnte man nicht entfernen, ohne das Seil aufzulösen und damit unbrauchbar zu machen. Der Diebstahl königlicher Tampen war also sinnlos. Goethe erläuterte den Trick und benutzte die Sache gleich als Bild: „Ebenso zieht sich durch Ottiliens Tagebuch ein Faden der Neigung und Anhänglichkeit, der alles verbindet und das Ganze bezeichnet.“ Seitdem sucht man in Texten den zentralen Gedanken, der wie der rote Faden hindurchläuft, nicht selten vergebens.

Goethe hätte übrigens auf dem Weg nach Capri beinahe ganz wörtlich „Schiffbruch erlitten“. Ein Zufall rettete alle im letzten Moment. Wie schrieb schon vor 2000 Jahren der geniale Petronius? „Wenn du richtig rechnest, gibt es überall Schiffbruch.“ Das überzeugt angesichts verbreiteten Elends ebenso wie eine andere römische Weisheit: „Commune naufragium dulce.“ Das könnte man so übersetzen: „Allgemeiner Schiffbruch ist süß.“ Eben weil es allen schlecht geht, quält niemanden Neid. Es galt 150 Jahre lang als gebildet, mit solchen lateinischen Sprüchen um sich zu werfen. In einer Zwangslage zitierte man deshalb „Scylla und Charybdis“, denn wer das eine der beiden mythischen Seeungeheuer vermeiden konnte, kam dem anderen zu nah.

Gelegentlich liest und hört man heute mehr oder weniger ironisch „Navigare necesse est“. Als „Seefahrt ist not!“ übersetzte es Johann Wilhelm Kinau alias Gorch Fock und verwendete es 1913 als Titel für seinen viel verkauften Roman. Das alte Zitat hat freilich noch einen zweiten Teil: „vivere non est necesse“, also „leben ist nicht nötig“. In dieser heroischen Form ist die Wendung aus dem 15. Jahrhundert überliefert und findet sich seit 1545 auf Deutsch am Haus „Seefahrt“ in Bremen. Sie ist aber noch älter. Der antike Geschichtsschreiber Plutarch erwähnt, dass der im Kampf gegen die Piraten sehr erfolgreiche Feldherr Pompejus mit diesen Worten seine wegen eines Sturmes unwilligen Matrosen ermuntert habe. Tatsächlich kamen sie heil heim, ohne an Klippen oder Riffen zu scheitern.


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  mare No. 72

No. 72Februar / März 2009

Von Rolf-Bernhard Essig

Sehr frei tummelt sich Rolf-Bernhard Essig, 1963 in Hamburg geboren, auf dem weiten Markt der Schreiber. Vielseitig interessiert, arbeitet der promovierte Germanist und Historiker, Autor und Kritiker ebenso für Printmedien wie für SWR, WDR und Deutschlandradio Kultur, wo seine Sendung Essigs Essenzen jeden Freitag über Redensarten und Sprichwörter aufklärt. Wenn er nicht schreibt, unterrichtet er an Universitäten Deutschlands und Russlands. Essig lebt in Bamberg.

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Vita Sehr frei tummelt sich Rolf-Bernhard Essig, 1963 in Hamburg geboren, auf dem weiten Markt der Schreiber. Vielseitig interessiert, arbeitet der promovierte Germanist und Historiker, Autor und Kritiker ebenso für Printmedien wie für SWR, WDR und Deutschlandradio Kultur, wo seine Sendung Essigs Essenzen jeden Freitag über Redensarten und Sprichwörter aufklärt. Wenn er nicht schreibt, unterrichtet er an Universitäten Deutschlands und Russlands. Essig lebt in Bamberg.
Person Von Rolf-Bernhard Essig
Vita Sehr frei tummelt sich Rolf-Bernhard Essig, 1963 in Hamburg geboren, auf dem weiten Markt der Schreiber. Vielseitig interessiert, arbeitet der promovierte Germanist und Historiker, Autor und Kritiker ebenso für Printmedien wie für SWR, WDR und Deutschlandradio Kultur, wo seine Sendung Essigs Essenzen jeden Freitag über Redensarten und Sprichwörter aufklärt. Wenn er nicht schreibt, unterrichtet er an Universitäten Deutschlands und Russlands. Essig lebt in Bamberg.
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