Seestütchen! Schnörkelchen! Ringelnass!

Joachim Ringelnatz war Matrose, bevor er Dichter wurde. Seepferdchen waren seine sehr spezielle Leidenschaft

Geheimnisvolles zieht Auch immer Interpreten an. In diesem Falle ist das Geheimnis der Name eines Mannes. Hans Bötticher, geboren am 7. August 1883 im sächsischen Wurzen, aufgewachsen in Leipzig, war Sohn eines Schriftstellers, Schiffsjunge, Leichtmatrose, Kaufmannslehrling und Tabaksladenbesitzer, Hausdichter und Fremdenführer, gräflich wartenburgischer und münchhausenscher Bibliothekar, kaiserlicher Mariner und Leutnant zur See, reisender Artist, Poet, Zeichner, Maler – und nannte sich ab 1919 Jo-achim Ringelnatz.

Als Erdichter und Ebenbild des Matrosen Kuttel Daddeldu ist er in die Literatur- und Theatergeschichte eingegangen und hat einige der schönsten deutschen Liebes- und Kindergedichte geschrieben. Die Herkunft des Namens Daddeldu hat Ringelnatz selber erläutert: Zu seiner Fahrenszeit pflegten englische Seeleute, wenn sie die Leinen mit einer ausreichenden Zahl von Knoten befestigt hatten, auszurufen: „That’ll do!“, „Das tut’s!“ Die Bedeutung seines eigenen Pseudonyms ließ er hingegen im Dunklen. Selbst seinem Biografen Herbert Günther versicherte er, der Name habe keine Bedeutung und sei lediglich eine Art Tarnkappe für ihn.

Die klugen Interpreten boten von Ringelnatter bis Ringelschwanz alle mög-lichen und unmöglichen Deutungen an, so auch eine als mundartlicher Ausdruck für Seepferdchen: „Ringelnass“. Fest steht, dass Ringelnatz das Seepferdchen oft bedichtet und gezeichnet hat. Wenn er sein Gedicht „Seepferdchen“ auf der Bühne vortrug – und das tat er häufig, gehörte es doch zu seinem festen Repertoire –, dann führte er, wie Augenzeugen versichern, einen leichtfüßig-schwebenden Tanz von zauberhafter Grazie auf. In seinem Gemälde „Aquarium“ von 1924 schweben zwei Seepferdchen, einander zugewandt und mit den Schwänzen ins Seegras geklammert, über zwei traurigen Fischen, die die Flossen verzweifelt gegen dicke Glaswände pressen.

Norbert Gescher, Sohn von Ringelnatz’ Witwe Lona Pieper, rettete gemeinsam mit seiner Mutter den Nachlass durch Faschismus und Nachkriegswirren. Heute erinnert er sich, dass sie oft die vielen getrockneten Seepferdchen erwähnte, mit denen Ringelnatz die Bücherborde und Vitrinen der gemeinsamen Wohnung am Sachsenplatz ausstaffiert hatte. Für das Lübecker Kaufmannspaar Castelli arrangierte er zur Hochzeit im Juli 1933 eine kleine Seepferdchen-Installation.

Dass viele Fotos, Manuskripte und Gemälde noch heute existieren, ist dem Mut und der Umsicht von „Muschelkalk“ Ringelnatz – so nannte der Dichter seine Frau – zu verdanken, die sich nach dem Krieg auch als literarische Übersetzerin für die Verlage Rowohlt und Suhrkamp einen Namen machte und für ihren Mann die erste Werkausgabe im Henssel-Verlag Berlin betrieb.

Bis heute gilt Ringelnatz als skurriler Romantiker, Kinder- und Kabarettdichter, dem einige melancholisch-bizarre Meisterwerke gelangen, die einmalig in der deutschen Lyrik sind, aber ...

Das „Aber“ und die Pause danach bedeuten meistens: Kleinkunst. Das ist ein trauriger Irrtum, wie der Diogenes Verlag 1994 mit seiner Werkausgabe von Walter Pape gezeigt hat. Wer in den sieben Bänden gelesen hat, wird den Kritiker Alfred Polgar verstehen, der schrieb: „Dieser unvergleichliche Ringelnatz hat den Stein der Narren entdeckt (welcher, wie wunderbar, dem Stein der Weisen zum Verwechseln ähnlich sieht).“ Und der Schauspieler Paul Wegener erkannte: „Was an Ringelnatz exzentrisch erscheint, dient nur da-zu, seine Seele von der Außenwelt abzuschließen und sie zu erhalten. Wie ein Heiliger kann er zu den Fischen predigen und mit den Tieren reden.“

Wie es aussah, wenn dieser exzentrische Heilige auf Wanderpredigt ging, hat der Dramatiker Herbert Eulenberg überliefert: „In der umwälzenden Zeit kurz nach dem Kriege, da seine Freunde ihm wirtschaftlich helfen wollten, richteten wir ihm in Düsseldorf einen Vortragsabend in einem Privathaus ein. Zum ersten Male wurden auch seine Bilder ausgestellt und mehrere von ihnen verkauft. Nach seinem Vortrag, wo er einige seiner grauenhaftesten Tragi-Grotesken darbot, die nur durch die unbetont leise und zaghaft feststellende Art seiner Rezitation möglich wurden, zeigte man ihm die Dame, die sich der Mühe unterzogen hatte, den Abend zu arrangieren. Wie ein glückliches Kind stürzte er auf die Straße hinaus, um sich ein paar Blumen für seine Gönnerin zu verschaffen. Es war nah an Mitternacht und alle Läden längst geschlossen. Nur die Apotheke war noch offen. So nahte er sich denn nach einiger Zeit und überreichte der Veranstalterin des Abends mit fremdartigen, zierlich-verlegenen Wendungen ein Päckchen, in dem sich Odol und Seife befand.“

Zu der verhaltenen und zarten Art des Vortrags kam auch der leicht sächsische Tonfall, den man sich bei der Lektüre von Ringelnatz-Gedichten in Erinnerung rufen muss, um ihren Bühnenerfolg zu verstehen. Dieser Gestus wurde, um einen Terminus von Brecht zu benutzen, zu einem Verfremdungseffekt, der den Erfolg mit- verursachte. Ringelnatz steigerte ihn manchmal noch durch Umkehrung, in-dem er etwas „nicht nur Derbes und Schlüpfriges, sondern eine ganz hundsgemein saftige Schweinerei“ ankündigte, um dann, noch in das Gegröhle des Publikums hinein, etwas besonders Zartes und Anmutiges zu sprechen, bis das Gelächter erstarb. Ein Mann, der viel vom Theater, vom Publikum, vom Leben und deshalb auch von der Literatur verstand.


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mare No. 21

No. 21August / September 2000

Von Holger Teschke

Holger Teschke, geboren 1958 in Bergen auf Rügen, arbeitete von 1990 bis 1999 am Berliner Ensemble. Er übersetzte und schrieb zahlreiche Stücke und wurde mehrfach ausgezeichnet. Derzeit lehrt er Schauspiel an der New York University.

Joachim Ringelnatz: „Das Gesamtwerk in sieben Bänden“, hrsg. von Walter Pape, Diogenes Verlag, Zürich 1994, 3004 Seiten, 298 Mark.

In der Kunstsammlung der Universität Göttingen eröffnet am 15.10. eine Ringelnatz-Ausstellung mit vielen Bildern, die sich in sonst unzugänglichem Privatbesitz befinden. Danach in Cuxhaven, Schloss Ritzebüttel, 10.12.2000 – 21.1.2001, und in Wurzen, Kulturgeschichtliches Museum, 3. 2.–18. 3. Info und digitale Galerie: www.ringelnatz.uni-goettingen.de

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Vita Holger Teschke, geboren 1958 in Bergen auf Rügen, arbeitete von 1990 bis 1999 am Berliner Ensemble. Er übersetzte und schrieb zahlreiche Stücke und wurde mehrfach ausgezeichnet. Derzeit lehrt er Schauspiel an der New York University.

Joachim Ringelnatz: „Das Gesamtwerk in sieben Bänden“, hrsg. von Walter Pape, Diogenes Verlag, Zürich 1994, 3004 Seiten, 298 Mark.

In der Kunstsammlung der Universität Göttingen eröffnet am 15.10. eine Ringelnatz-Ausstellung mit vielen Bildern, die sich in sonst unzugänglichem Privatbesitz befinden. Danach in Cuxhaven, Schloss Ritzebüttel, 10.12.2000 – 21.1.2001, und in Wurzen, Kulturgeschichtliches Museum, 3. 2.–18. 3. Info und digitale Galerie: www.ringelnatz.uni-goettingen.de
Person Von Holger Teschke
Vita Holger Teschke, geboren 1958 in Bergen auf Rügen, arbeitete von 1990 bis 1999 am Berliner Ensemble. Er übersetzte und schrieb zahlreiche Stücke und wurde mehrfach ausgezeichnet. Derzeit lehrt er Schauspiel an der New York University.

Joachim Ringelnatz: „Das Gesamtwerk in sieben Bänden“, hrsg. von Walter Pape, Diogenes Verlag, Zürich 1994, 3004 Seiten, 298 Mark.

In der Kunstsammlung der Universität Göttingen eröffnet am 15.10. eine Ringelnatz-Ausstellung mit vielen Bildern, die sich in sonst unzugänglichem Privatbesitz befinden. Danach in Cuxhaven, Schloss Ritzebüttel, 10.12.2000 – 21.1.2001, und in Wurzen, Kulturgeschichtliches Museum, 3. 2.–18. 3. Info und digitale Galerie: www.ringelnatz.uni-goettingen.de
Person Von Holger Teschke