Seemanns Traum

Tag 53 der Reise. Das Schiff duftet nach Rasierwasser und Seife. Männer machen sich fein für den Besuch im Bordell

„Walter hat extra zwei Wochen nicht mehr gewichst“, sagt Walter. Was aber will er uns damit sagen? Erstens, dass es spannend wird. Denn immer wenn es spannend wird, redet Walter von sich wie von einem anderen.

Zweitens verweist das untrüglich auf morgen. Und morgen ist Geschlechtstag. Vielleicht auch erst übermorgen – je nachdem, wann wir nun wirklich in Jakarta rangehen können. Auf der Route unseres Frachters ist das ehemalige Batavia der einzige Hafen, in welchem für die entsprechend bedürftigen Crewmitglieder das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmt. Dass einmal eine Frau haben 150000 Rupiah kostet und dass das etwa 20 US-Dollar wären, das hat mir der Steward schon vor Wochen angetragen. Für die Männer bedeutet das alle drei Monate einen Festtag.

Und drittens schließlich steht Walters Bekenntnis zu seiner Zurückhaltung für den Zahn der Zeit. Walter ist alt. Er hat schon eine Menge Wasser gesehen. „Früher“, sagt er, „früher hat Walter sich fünf Minuten vorm Von-Bord-Gehen noch schnell einen runtergeholt. Damit er bei den Mädchen nicht gleich fertig ist.“ Und dann die Erholungszeit für den zweiten Anlauf mitbezahlen muss. Nach drei Monaten auf See ohne Frauen. Aber jetzt! Morgen Jakarta.

Sind die wirklich so? Sind die alle so? Müssen die so sein? Ach was. Seefahrer gehen dann in fremden Häfen an Land und ins Bordell, wenn sie in fremden Häfen an Land gehen können (kurze Liegezeiten), an Land gehen dürfen (rigide Einreisebestimmungen), wenn sie die Frauen bezahlen können (schlechte Kurse in reichen Ländern) und bezahlen wollen (individuelle Nöte und Bedürfnisse). Andere Seeleute gehen in fremden Häfen zwar an Land, aber nicht ins Bordell. Entweder aus oben genannten Gründen oder weil sie ohnehin nicht ins Bordell gehen. Wieder andere Seeleute gehen weder ins Bordell noch an Land, auch wenn es ihnen möglich wäre. Vereinzelte davon wiederum laden sich eine Frau an Bord. Andere nicht.

Es ist also eigentlich wie an Land. Es gibt die gnaden-, hemmungs- und treulosen Rammler. Es gibt die, welche Liebesdienste fallweise in Anspruch nehmen. Und es gibt die, deren Treueverständnis dem einer durchschnittlichen, nicht mit einem Seemann verheirateten Landfrau entspricht. Die ganz Getreuen aber halten sich augenscheinlich nicht deshalb für die moralisch höherwertigen, für die besseren Männer. Der eine geht, der andere eben nicht. Kommt der andere zurück, wird ihn der eine nicht scheel ansehen. Vielleicht ist das der Unterschied zwischen dem Seemann und dem Landmann.

Und schließlich gibt es noch die, und es sind sehr, sehr viele, die niemanden haben, dem sie treu sein könnten, auch wenn sie es vielleicht gerne wären. Und es gibt Walter. Und Mirko. Und Wladi. Und Myat Maung und Aung Soe. Und all die anderen. Morgen Jakarta!

Heute wird noch Hand angelegt. Mirko ist so jung, wie Walter früher war, als er sich noch nicht zwei Wochen vorbereitete. Mirko. Ein kroatischer Steuermann eines in China gebauten und unter liberianischer Flagge fahrenden, von seinem deutschen Reeder an einen kanadischen Konzern vercharterten Containerfrachters mit birmanischer Besatzung betrachtet in australischen Gewässern die indonesische Raubkopie eines amerikanischen Pornofilms mit japanischen Darstellern und holländischen Untertiteln in einem koreanischen Videorecorder.

Wem ist es jetzt peinlicher: dem, der da sitzt und Porno guckt, wenn plötzlich einer reinkommt? Oder dem, der ahnungslos reinkommt, und da sitzt einer und guckt Porno? Oh. Hello. Äh.

Mirko ist Ende zwanzig, freundlich, frisch verheiratet. Mirko ist ein außerordentlich kompetenter und gewissenhafter chief mate, zu Deutsch: Erster Offizier. Mirko wird von seinem Kapitän geschätzt, er wird von den birmanischen Matrosen verehrt, er beantwortet geduldig und pädagogisch wirkungsvoll jede nautische Frage. Mirko erzählt, wie er sich von Bord freiwillig in den Krieg nach Hause in das zerfallende Jugoslawien gemeldet hat. Mirko erzählt, wie seine Mama ihm immer eingeschärft hätte, wo der Teufel wohnt; und wie er dann als kleiner Matrose sooo große Augen kriegt, als er ihm das erste Mal begegnet: Plötzlich stehen 50 wilde Mädchen am Kai und entern den Dampfer. Na ja, so sei es dann eben das erste Mal gewesen – die Mama hatte sich ganz offensichtlich doch geirrt. Und Mirko erzählt, wie sehr er sich auf seine Frau freut, die mit dem Flugzeug nach Singapur kommen wird und ihn von dort aus bis nach Europa begleiten darf. Das ist dann fast wie Flitterwochen. Ansonsten morgen erst einmal Jakarta.

Des Seemanns Gefährt ist weiblich. She ist das Schiff. Beim Namen genannt, ist der Dampfer eine Frau, so oder so: Da drüben fährt die „Jupiter“, die „Hugo Oldendorff“, die „Johann Schulte“, die „Paul Rickmers“. Natürlich fahren auch „Käthe“ und „Gudrun“ und „Henriette“. Nun könnte man wohlfeil die vulgärpsychologischen Register ziehen: Wenn – wie es heißt – Seemanns Braut die See ist, wer ist dann das Schiff? Die Geliebte? Fängt es hier schon an mit der Promiskuität? Oder ist das Schiff am Ende doch (nur wieder) die Mutter? Und der Seemann auf Gedeih und Verderb ihr ausgeliefert – bis zum Untergang?


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mare No. 31

No. 31April / Mai 2002

Von Peter Schanz und Antoine d’Agata

Antoine d’Agata wurde 1961 in Marseille geboren. Seine Ausbildung zum Fotografen erhielt er in New York. Die vorliegenden Arbeiten entstanden während langer Reisen in den Jahren 1999 bis 2001. Bei seinen Aufnahmen empfand sich d’Agata häufig einem „seelischen Striptease“ ausgesetzt.

Das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe zeigt vom 20. April bis zum 25. August im Rahmen der 2. Triennale der Photographie Hamburg 2002 die Ausstellung Mythos St. Pauli mit Arbeiten von d’Agata und anderen Fotografen.

Peter Schanz, Jahrgang 1957, lebt als Autor und Dramaturg am Niederrhein. Für mare porträtierte er zuletzt in No. 30 eine Seemannsseelsorgerin in Brunsbüttel. Die Erlebnisse von seiner Fahrt auf einem Containerschiff rund um die Welt können Sie auch hören: mare-Hörbuch „87 Tage Blau“.

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Vita Antoine d’Agata wurde 1961 in Marseille geboren. Seine Ausbildung zum Fotografen erhielt er in New York. Die vorliegenden Arbeiten entstanden während langer Reisen in den Jahren 1999 bis 2001. Bei seinen Aufnahmen empfand sich d’Agata häufig einem „seelischen Striptease“ ausgesetzt.

Das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe zeigt vom 20. April bis zum 25. August im Rahmen der 2. Triennale der Photographie Hamburg 2002 die Ausstellung Mythos St. Pauli mit Arbeiten von d’Agata und anderen Fotografen.

Peter Schanz, Jahrgang 1957, lebt als Autor und Dramaturg am Niederrhein. Für mare porträtierte er zuletzt in No. 30 eine Seemannsseelsorgerin in Brunsbüttel. Die Erlebnisse von seiner Fahrt auf einem Containerschiff rund um die Welt können Sie auch hören: mare-Hörbuch „87 Tage Blau“.
Person Von Peter Schanz und Antoine d’Agata
Vita Antoine d’Agata wurde 1961 in Marseille geboren. Seine Ausbildung zum Fotografen erhielt er in New York. Die vorliegenden Arbeiten entstanden während langer Reisen in den Jahren 1999 bis 2001. Bei seinen Aufnahmen empfand sich d’Agata häufig einem „seelischen Striptease“ ausgesetzt.

Das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe zeigt vom 20. April bis zum 25. August im Rahmen der 2. Triennale der Photographie Hamburg 2002 die Ausstellung Mythos St. Pauli mit Arbeiten von d’Agata und anderen Fotografen.

Peter Schanz, Jahrgang 1957, lebt als Autor und Dramaturg am Niederrhein. Für mare porträtierte er zuletzt in No. 30 eine Seemannsseelsorgerin in Brunsbüttel. Die Erlebnisse von seiner Fahrt auf einem Containerschiff rund um die Welt können Sie auch hören: mare-Hörbuch „87 Tage Blau“.
Person Von Peter Schanz und Antoine d’Agata