Seemanns Gipfel der Sehnsucht

Im Inselmeer von Feuerland an der Südspitze Südamerikas ragt einsam der Monte Sarmiento. Der 2200 Meter hohe Berg, 150 Kilometer entfernt von der nächsten Siedlung, ist nur vom Meer aus erreichbar.

Zunächst war es nur ein Blick auf weit entfernte Berge während einer Bootsfahrt im Beagle-Kanal. Wie unnahbare Eiskristalle aus der Märchenwelt der „Schneekönigin“ des Hans Christian Andersen leuchteten sie herüber nach Ushuaia. Ich bekam dieses magische Weiß der Gipfel nicht mehr aus meinem Kopf. Was waren das für Berge da am Ende der Welt? Später stolperte ich durch Zufall über ein Buch aus den 1920er Jahren. „Zehn Jahre im Feuerland“ heißt das Werk, geschrieben von Alberto M. De Agostini, ein Salesianerpater, der einige Berge Feuerlands erstmals bestiegen hatte. Von undurchdringlichem Urwald war die Rede, von schnee- und eisbedeckten Gipfeln, die noch keiner betreten hatte, von Gletschern, deren blaue Zungen ins Meer kalbten. Und vom Monte Sarmiento de Gamboa. Ein Berg im Westen Feuerlands, 2200 Meter hoch, auf einer Halbinsel gelegen, 150 Kilometer von der nächsten menschlichen Ansiedlung entfernt und nur übers Wasser zu erreichen. Eine nach allen Seiten extrem steile Pyramide. Meist nicht zu sehen, denn der Westen Feuerlands hat mit das mieseste Wetter unseres Planeten. Und: noch zu entdecken. Die meisten Berge der Gegend hier tragen noch keinen Namen, es gibt kaum vernünftige Karten. Diejenigen, die mir aus Santiago de Chile zugeschickt wurden, zeigten das magische Wort: „inexplorado“, unerforscht. Zwar wurde sowohl der Ostgipfel des Monte Sarmiento im Jahr 1956 als auch der Westgipfel des Berges 1986 und 1995 bezwungen, doch hier, wo die Gletscher mit zwei, drei Metern am Tag fließen und die Topografie einem ständigen Wandel unterliegt, konnte man noch Entdecker sein. An jeder Ecke würden sich unbekannte, vielleicht noch nie gesehene Ansichten auftun. Mit dem Segelboot die Kanäle Feuerlands erkunden und anschließend den schönsten Berg der Welt besteigen – war das nicht mein ganz persönlicher Traum? Die perfekte Kombination aus Berg und Meer?

Frühjahr 2010 – mit dem Segelboot zum Monte Sarmiento
Ich stehe an der Pier des südlichsten Yachtklubs der Welt, Club de Yates Micalvi in dem Dorf Puerto Williams am Beagle-Kanal. Nach 1999, 2002 und 2005 habe ich mir noch einmal ein Herz gefasst und die vierte Expedition zum Berg meiner Träume organisiert, die ich als Bergfotograf dokumentieren werde. Mit von der Partie sind Robert Jasper und Jörn Heller, zwei der besten Alpinisten unserer Zeit. Unter uns dümpelt die „Tari II“, eine 12,5 Meter lange Stahlyacht und unsere Heimat für die nächsten vier Wochen. Aus dem Cockpit stemmt sich eine drahtige Gestalt und begrüßt uns aufs Allerherzlichste: Skipper „Micki“ Porco Fischer. Für eine vierwöchige Expedition zum berühmtesten Berg Feuerlands war der Argentinier mit deutscher Großmutter schnell gewonnen. Schließlich war er selbst noch nie im Westen des Archipels gewesen, und die Tatsache, dass schon rund 30 Expeditionen am Monte Sarmiento gescheitert sind, hat ihn neugierig gemacht.

Endlich ist alles verstaut. Wir lassen uns, etwas skeptisch angesichts der geringen Größe des Bootes, in die Bedienung der Bordtechnik, ins Setzen und Bergen der Segel einweisen. Insbesondere die Toilette entlockt Robert und Jörn ein gequältes Lächeln: Wenn das Ventil nicht richtig geschlossen wird, geht die „Tari II“ unter. Na denn. Wir laufen aus, die Segel werden gesetzt, und während das Boot langsam in Schräglage kippt, schwappen auch schon die ersten Wellen übers Deck. Einige verunsicherte Blicke richten sich auf Micki, doch der signalisiert: alles in Ordnung. Daran werden wir uns wohl oder übel gewöhnen müssen.

Ein paar Tage später liegen wir am Eingang des España-Fjords fest, im wahrsten Sinn des Wortes: Über Nacht hat es einen Temperatursturz gegeben; am Morgen müssen zehn Zentimeter Neuschnee vom Deck gefegt werden, um die „Tari II“ selbst hat sich eine dünne Eisschicht gebildet. Draußen im Beagle-Kanal tobt die Hölle. An Weiterfahrt ist nicht zu denken. Da aber der Fjord selbst relativ windgeschützt scheint, beschließen wir, diesen näher zu erkunden. Erste Eisberge treiben uns entgegen, Vorboten des am Ende des Meeresarms in die See kalbenden Gletschers. Krachend und knirschend sucht sich die „Tari II“ ihren Weg durchs Eis, eine schmale Spur offenen Wassers hinter sich lassend, die jedoch gleich wieder durch die Eismassen geschlossen wird. Schließlich ist Schluss. Zu viele Eisberge versperren uns den Weg, zu dick ist die Eisdecke im Inneren des Fjords, als dass wir hier durchbrechen könnten.

Nach zwei Tagen in den Fjorden nördlich des Beagle-Kanals hat sich das Wetter beruhigt, und wir können unsere Reise nach Westen fortsetzen. Nach dem Ballenero-Kanal erreichen wir dann die Brecknock-Passage, von der es im Buch „Kap Hoorn“ von Francisco Coloane heißt: „Die Brecknock-Passage, ebenso rau wie die Aneinanderreihung ihrer harten Konsonanten, ist nicht sehr lang, die Wellen bäumen sich jedoch wie Kraterränder, brechen sich an den hohen, düsteren Klippen und stürzen tosend und schäumend ins Meer zurück, sodass die Durchfahrt für alle Seeleute ein Albtraum ist.“ Erst recht für Bergsteiger. Allesamt hängen wir an der Reling – ein Wal schwimmt seelenruhig an Steuerbord mit und scheint sich an dem Spektakel nicht sattsehen zu können. Doch dann geht es wieder nach Osten. Erstmals kommt der Wind von achtern, die Segel können ausgepackt werden. Selbst Robert und Jörn sind begeistert. Mit über acht Knoten schiebt uns ein kräftiger Wind an. Noch am Abend erreichen wir Puerto King, eine Bucht, wenige Kilometer vom Monte Sarmiento entfernt.

Als ich am nächsten Morgen aufwache, ist es windstill. Kaum eine Wolke ist zu erkennen, orangerot färbt sich der Horizont im Osten. So friedlich kann Feuerland also auch sein. Während das Schiff langsam durch das stille Wasser gleitet, stehen wir alle an Deck. Gespannt starren wir zu einem Bergrücken, hinter dem sich langsam etwas Größeres herausschält. Zunächst erkennt man nur einen riesigen, ins Meer fließenden Gletscher, dann einen Grat, der sich immer höher schraubt. Er ist es, der Monte Sarmiento. Sprachlos stehen wir an Deck, gebannt von der Perfektion dieses Berges. In Gedanken zitiere ich De Agostini: „… bis sich plötzlich in der Höhe, hinter dem Dunstschleier, ein gewaltiger, kugelförmiger, schneeweißer Turm abhob, den wir im ersten Augenblick für den Gipfel hielten. Während unsere Blicke unverwandt darin hingen, erschien noch weiter oben, unverhofft wie in einer Traumregion, ein spitzer Kamm, darüber, über steil abstürzende und trotzdem von Schneewechten überragten Wänden, ein ungeheurer, überhängender Eispanzer … Mit wachsendem Interesse verfolgten wir die Enthüllung des geheimnisvollen Berges; es war wie das Hochziehen des Vorhangs vor einer wunderherrlichen, magischen Szene.“

1. April 2010 – Annäherung an den Berg der Träume
„Passt auf, dass eure Steigeisen und Eispickel keine Löcher in das Dingi stechen!“ Micki steht die Sorge ins Gesicht geschrieben, nicht nur wegen der für Seefahrer ungewohnt scharfen Eiswerkzeuge an den Rucksäcken. Schließlich ist der Himmel immer noch mit dicken, grauen Wolken verhangen. Und ausgerechnet im Nieselregen starten wir den nächsten Besteigungsversuch, den bislang vierten auf dieser Reise. Und das scheint nun wirklich nicht sehr vernünftig, doch der aufkommende Südwind lässt uns an das ersehnte Schönwetterfenster glauben. Und ein wenig Glaube und Instinkt sind notwendig in diesem Teil der Welt. Das kleine Schlauchboot, in das wir uns mit unserer gesamten Bergausrüstung hineingequetscht haben, gleitet über das eiskalte Wasser und kommt knirschend am Kies der Caleta Escandallo, einem Strand auf der Ostseite des Monte Sarmiento, unser Basislager, zum Stehen. Nun sind wir drei Bergsteiger auf uns allein gestellt. Ausgesetzt an einem Strand, darum herum nichts als unberührte Wildnis. Keiner würde mitbekommen, wenn uns etwas passierte. Aber war es nicht gerade das, was ich gesucht hatte? Den Aufbruch ins Unbekannte, Ungewisse? Beruhigend zu wissen, dass ich mit guten und verlässlichen Freunden unterwegs bin. Sowohl Robert als auch Jörn sind absolute Bergprofis, die schon so manches Abenteuer, auch in Patagonien, gut überstanden haben. Und für mich selbst ist es ja schon die 20. Bergfahrt an das südliche Ende der Welt, eine gewisse Erfahrung, speziell mit den patagonischen Bergen, habe also auch ich.

Im Regenwald Feuerlands
Wie eine immergrüne Mauer stellt er sich uns entgegen: der kalte Regenwald Feuerlands mit zähem Gestrüpp, Stacheln, umgefallenen, kreuz und quer liegenden Baumstämmen. Mit Macheten schlagen wir uns einen schmalen Pfad durch die üppig wuchernde Vegetation. Wir springen von Moospolster zu Moospolster, umgehen Tümpel. Bei jedem Schritt gibt der Boden nach, gibt schmatzende und gluckernde Geräusche von sich. Wenn man hier irgendwo einsackte, wäre es vorbei mit allen Besteigungsträumen. Dann würden die Bergschuhe voll Wasser laufen und später, weiter oben, zu Eisklumpen gefrieren.

Am Ende des Waldes wird das Gelände steiler, der Sumpf aber bleibt. Seilfrei hangeln wir uns an vor Nässe triefenden Moosen und allerlei anderen Gewächsen die schmierglatten Felsplatten hinauf. Endlich auf dem Gletscher angelangt, macht uns eine kleine Lücke in der Wolkendecke Hoffnung. Fünf Minuten lang, denn dann zieht alles wieder zu. Erst ganz allmählich, dann aber immer stärker werdend, fängt es an zu schneien. Der Wind jedoch kommt immer noch aus Süden – dieser Wind ist der Schönwetterstrohhalm, an den wir uns klammern. Der Monte Sarmiento gilt weltweit als der Berg mit dem schlechtesten Wetter.

Das große Weiß
Jörn navigiert im Whiteout mit GPS, Robert mit seinem Gefühl und ich mit meiner Erfahrung von den früheren Versuchen. Zusammen finden wir den Collado Este, einen Pass am Ostgrat des Monte Sarmiento und guten Ausgangspunkt für alle möglichen Anstiege auf dieser Seite des Berges. In einem steilen Hang finden wir einen lawinensicheren Platz für eine Schneehöhle und graben uns ein. Nach zwei Stunden ist die Behausung groß genug, dass wir alle darin verschwinden. Mit einem Rucksack wird der Eingang gegen den Flugschnee verschlossen, und wir können uns in unsere Schlafsäcke kuscheln. Die Erfahrung sagt, dass wir besser alle zwei Stunden den Wecker stellen und den Eingang freischaufeln. Schläft man nämlich zu lange, geht der Sauerstoff aus, dann wacht hier niemand mehr auf. So sinke ich in einen leichten Dämmerschlaf, Zeit, die Erinnerungen an die zurückliegenden drei Expeditionen zum Monte Sarmiento hochsteigen zu lassen.

1999 – die erste Fahrt zum Monte Sarmiento
Die erste Expedition hatte mir schon im Vorfeld graue Haare eingetragen. Rund zwei Jahre hatte es gedauert, bis ich einen Skipper gefunden hatte, der dorthin segeln wollte, und genügend Bergsteiger, die diesen Skipper plus Boot für vier Wochen finanzieren wollten. Denn billig war Feuerland noch nie. Nachdem endlich alles bereit gewesen war, acht Teilnehmer die notwendigen Verträge unterschrieben hatten, riss mir drei Wochen vor Abfahrt die Achillessehne. Heulend lag ich im Krankenhaus, aus dem Monte Sarmiento wurde der Monte Patiento. Doch die Ärzte machten mir Hoffnung, dass ich bald entlassen werden könnte. Und da Skipper Henk Boersma auch noch ein Seekajak auftreiben konnte, fuhr ich dann doch mit: mit einer riesigen Schiene am Fuß und Krücken unter dem Arm. An Bergsteigen war natürlich nicht zu denken, aber mit dem Kajak konnte ich die Fjorde Feuerlands zumindest auf Meeresspiegelhöhe erkunden, den Pia-, Brooks- und den Martínez-Fjord. Und überall standen Hunderte von fantastischen Bergen herum, der schönste war definitiv der Monte Sarmiento. Als wir in Puerto King ankerten, gaben die Wolken für einen kurzen Moment den Blick auf den Westgipfel frei. Gerade dort findet sich eine Eisformation, die aussieht wie das Gesicht eines uralten, griesgrämigen Mannes. Und ausgerechnet dieses Gesicht lugte für wenige Sekunden aus den Wolken hervor. Für mich war klar, der Berg verabschiedet sich. Der Beginn einer langen und sehr persönlichen Beziehung.

2002 – auch kleine Erfolge machen glücklich
Im Jahr 2002 war es mir dann endlich wieder gelungen, ein paar Leute von Feuerland, einem Segelboot und vier Wochen Auszeit von der Zivilisation zu begeistern. Das Wetter war friedlich, aber das Tageslicht beschränkte sich auf wenige Stunden, und so manchen Morgen musste das Boot zunächst vom über Nacht gefallenen Neuschnee befreit werden. So fuhren wir wieder zuerst durch den Beagle-, dann durch den Ballenero-Kanal und gelangten schließlich nach Puerto King, wo wir den Anker fallen ließen. Am nächsten Morgen weckte uns ein strahlender Sonnenaufgang. Da stand er wieder, der für mich schönste Berg der Welt mit seinem griesgrämigen, alten Gesicht am Westgipfel. Dieses Mal servierte uns der Monte Sarmiento gleich vier Tage hintereinander gutes Wetter. In unserem Rausch unter blauem Himmel vergaßen wir die uns eigentlich bekannte Geografie des Berges und näherten uns von Norden. Es sah so einfach aus, endete aber abrupt unterhalb senkrechter und noch dazu höchst instabiler Séracs, Türme aus Gletschereis, die sich an Abbruchkanten bilden und deren Überkletterung ein tödliches Risiko ist. So mussten wir bei bestem Wetter den Rückzug antreten. Diese bittere Erfahrung hätten wir uns ersparen können, hätten wir nur unseren De Agostini sorgfältiger gelesen. Ihm unterlief 1913 nämlich der gleiche Fehler. Und dem alten, griesgrämigen Mann am Monte Sarmiento schien unser Scheitern so viel Freude zu machen, dass er sich danach durchgehend in Wolken hüllte. Allerdings gelangen 2002 noch Erstbesteigungen von zwei rund 1500 Meter hohen Bergen in der benachbarten Navarro-Kette. Wenigstens etwas.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 84. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 84

No. 84Februar / März 2011

Von Ralf Gantzhorn

Der Fotograf und Autor Ralf Gantzhorn, Jahrgang 1964, lebt in Hamburg und ist passionierter Bergsteiger. Für 2012 hat er die nächste Expedition nach Feuerland geplant, dieses Mal auf den Monte Buckland, ungefähr 1900 Meter hoch. Genaueres wird der Gipfelsturm erbringen.

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Vita Der Fotograf und Autor Ralf Gantzhorn, Jahrgang 1964, lebt in Hamburg und ist passionierter Bergsteiger. Für 2012 hat er die nächste Expedition nach Feuerland geplant, dieses Mal auf den Monte Buckland, ungefähr 1900 Meter hoch. Genaueres wird der Gipfelsturm erbringen.
Person Von Ralf Gantzhorn
Vita Der Fotograf und Autor Ralf Gantzhorn, Jahrgang 1964, lebt in Hamburg und ist passionierter Bergsteiger. Für 2012 hat er die nächste Expedition nach Feuerland geplant, dieses Mal auf den Monte Buckland, ungefähr 1900 Meter hoch. Genaueres wird der Gipfelsturm erbringen.
Person Von Ralf Gantzhorn