Seefahrers Unruh

mare und taznord luden zum Wettschreiben ein – und 235 Autorinnen und Autoren schickten ihre Geschichte über das Meer. Die beste, fand die Jury, kam von einem 19-jährigen Studenten aus dem unterfränkischen Großeibstadt

Man hatte „Seefahrers Ruh“ direkt hinter dem Deich errichtet, ein schweres, wuchtiges Backsteingebäude aus der Zeit der Jahrhundertwende. Der einzige Tribut an die Moderne war die auf Stahlstelzen stehende Plattform, die über den Deich hinweg bis ans Meer führte.

„Ich hab ihn gesehen damals, musst du wissen.“ 
„Wen gesehen, Großvater?“
„Den Seebischof. Leibhaftig.“ 
„Den Seebischof?“

Die Anstaltsleiterin hatte ihn am Eingang des Gebäudes erwartet, um ihn zu seinem Großvater zu führen. Im immergleichen Abstand war sie neben ihm hergelaufen, hatte immer wieder einem der alten Männer zugenickt oder ihnen die Hände geschüttelt, ein sehr herzlicher Umgang, wie ihm auffiel. Sie liefen durch niedrige, verwinkelte Korridore, es erinnerte ihn an die alten Küstenfrachter, auf denen sein Großvater gefahren war. Unvermittelt tauchten aus irgendwelchen Seitengängen oder Türrahmen Männer in Ölzeug oder Norwegerpullis auf, alle gleich aussehend, wie ihm schien, bärtig, wettergegerbt, weißhaarig. Klischeeseemänner.

Er wusste nicht, was er sagen sollte. Jetzt also auch noch den Seebischof. Schon seit einer Dreiviertelstunde durfte er sich anhören, was sein Großvater alles gesehen hatte. Seeschlangen, singende Winde, grüne Wale. Also schwieg er lieber. 
„Ja, den Seebischof. Damals, in der Adria. Es war Nacht, wir sind aufgetaucht, um unsere Batterien zu laden, als dieser Sturm aufzog. Erst war da das Elmsfeuer, es zischte an den Masten, die Haare stellten sich uns auf!“ Der alte Mann lachte, wobei, es klang eher wie ein Grummeln, und dazu wackelte er in seinem Sessel hin und her. „Wir wollten schon tauchen, ich war der Letzte auf dem Turm, die Wellen gitschten übers Deck, und da war er.“

Auf dem Weg zu seinem Großvater hatte die Leiterin die ganze Zeit über geredet, trotz seines offenkundigen Desinteresses (wozu sollte es ihn auch interessieren, deswegen war er ja auch nicht gekommen, er war gekommen, weil sein Großvater es gewollt, gefordert hatte. Geschrieen hatte er am Telefon, als ginge es um Leben und Tod – „Und nur du! Kein anderer!“). Irgendetwas von „Anstaltsphilosophie“, aber er wusste es schon nach ein paar Minuten nicht mehr.
„… Wissen Sie, wir haben es uns zum Ziel gesetzt, unseren Bewohnern möglichst viel von ihrem alten Leben zu bieten. Natürlich, wir können sie nicht auf See schicken, bedenken Sie das nur einmal!“ – ein kurzes, helles Lachen, als aber von ihm kein Lachen kam, verstieg sie sich lieber wieder aufs Reden –, „aber dennoch. Wenn sie in ihrer alten Kleidung herumlaufen wollen, dann lassen wir sie auch … Das ist doch nur natürlich, finden Sie nicht? Und wenn die Sehnsucht ganz groß wird, dann können Sie ja auch hinaus auf die Plattform, dann sind sie dem Meer so nah wie nur irgend möglich und vertretbar.“ Ein einbeiniger Winzling mit Kapitänsmütze saß in einem Stoffsessel und spielte Schifferklavier. Noch so ein Klischee.

Sollte er ihn bemitleiden oder beneiden? Schließlich glaubte er an das, was er erzählte, fest und innig, und war das nicht irgendwie beneidenswert? Der junge Mann konnte das alles nicht, er kannte die Realität (schließlich war er ja Meeresbiologe), wusste, dass es keinen Seebischof gab, ja nicht einmal so viele Leben im Meer wie früher. Aber er schwieg weiter, ließ den Großvater reden.
„Wirklich, da schwamm er, keine zehn Meter von mir entfernt, die rote Bischofsmütze auf dem Kopf, und wenn es blitzte, dann schien er wie von innen zu leuchten. Und er lächelte, er lächelte mir zu! Ich rief etwas, irgendwas, ich weiß nicht mehr, aber er antwortete mir nicht, vielleicht konnte er mich im Sturm nicht hören. Nein, er nickte nur. Im nächsten Moment zerrten sie mich die Luke hinunter, und wir tauchten ab. Niemand außer mir hatte ihn gesehen.“

Alle waren sie auf irgendeine Art und Weise seltsam in „Seefahrers Ruh“, der Beruf hatte auf alle abgefärbt. Bei vielen war es der normale Prozess der Entgeisterung, andere aber – unter ihnen die meisten Veteranen der Stürme, Schiffbrüchige, über Bord Gegangene – schienen in einer Schleife gefangen zu sein, sie lebten immer noch in ihren glorreichen Meerestagen, bellten Befehle auf Platt oder gar noch Ostpreußisch.

Plötzlich begann der Alte zu singen. Sein Enkel kannte das Lied nicht, verstand es auch kaum, hatte er doch nie wirklich Friesisch gelernt, als Stadtkind. Der Großvater schmetterte es mit voller Inbrunst, sein kompakter Körper wackelte dazu wieder hin und her, wie bei seinem Lachen, aber das Lied erschien holprig und unvollständig, so als hätte er es selbst erdacht. Der junge Mann verstand nur ein paar Worte, und eines davon war „Seebischof“.

Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 65. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 65

No. 65Dezember 2007 / Januar 2008

Von Max Dörflein

„Seefahrers Unruh“ von Max Dörflein erhält den ersten Preis des von mare und ausgeschriebenen Kurzgeschichtenwettbewerbs. 235 Autorinnen und Autoren haben uns ihre Geschichte vom Meer zugeschickt. Es waren gruselige, melancholische, traurige, lakonische und manch witzige Texte darunter. Wir haben uns über jeden einzelnen Beitrag gefreut und bedanken uns herzlich bei allen, die an dem Wettbewerb teilgenommen haben.

Mehr Informationen
Vita „Seefahrers Unruh“ von Max Dörflein erhält den ersten Preis des von mare und ausgeschriebenen Kurzgeschichtenwettbewerbs. 235 Autorinnen und Autoren haben uns ihre Geschichte vom Meer zugeschickt. Es waren gruselige, melancholische, traurige, lakonische und manch witzige Texte darunter. Wir haben uns über jeden einzelnen Beitrag gefreut und bedanken uns herzlich bei allen, die an dem Wettbewerb teilgenommen haben.
Person Von Max Dörflein
Vita „Seefahrers Unruh“ von Max Dörflein erhält den ersten Preis des von mare und ausgeschriebenen Kurzgeschichtenwettbewerbs. 235 Autorinnen und Autoren haben uns ihre Geschichte vom Meer zugeschickt. Es waren gruselige, melancholische, traurige, lakonische und manch witzige Texte darunter. Wir haben uns über jeden einzelnen Beitrag gefreut und bedanken uns herzlich bei allen, die an dem Wettbewerb teilgenommen haben.
Person Von Max Dörflein