See gibt, See nimmt

Zu Besuch auf den Friedhöfen von Amrum. Grabsteine erzählen vom Leben, Holzkreuze künden vom Tod

Eines Tages im Jahre 1200 fanden die Amrumer am Strand einen seltsamen, unheimlichen Toten. Sie wunderten sich über seine von Seegras und Tang bewachsene Walroßhaut, holten rasch Sarg und Fuhrwerk und begruben ihn auf ihrem Friedhof bei der St. Clemenskirche, noch bevor die Sonne sank.

In der Nacht erhob sich ein furchtbarer Sturm. Er trieb nie gesehene Massen von Sand vor sich her auf den Strand und immer weiter übers Kliff und auf die Heide, als wolle er Amrum begraben. Schon wuchs der Sand auf Äcker, Dörfer und Weiden zu. Endlich fragten die verzweifelten Insulaner einen alten Mann, der im Ruf stand, ein Spökenkieker zu sein, um Rat. Man solle, riet der Alte, doch einmal die Strandleiche ausgraben und schauen, ob der Tote am linken Daumen lutsche. Falls ja, sei er ein Nöck, ein Wassermann, den das Meer mit Gewalt zurückholen wolle.

Man grub ihn aus, und jedermann sah, der Alte hatte recht vermutet. Der Nöck – denn ein solcher war er zweifellos – lutschte am linken Daumen. Schneller noch, als sie ihn begraben hatten, schafften sie ihn zum Strand. Die beiden Ochsen, die den Wagen zogen, rannten mit ihrer Fracht wie angestochen ins Meer hinaus. Von dieser Stunde an legte sich der Sturm, aber die Dünen, die er aufgeweht hatte, blieben stehen, und sie stehen noch heute.

Der Nöck ist nicht verbürgt, aber die Legende beschreibt und datiert die Entstehung der Dünen von Amrum natur-geschichtlich korrekt. Sie wurden um das 12. bis 13. Jahrhundert aufgeweht. Überhaupt sind Wind und Wasser die Schöpfer der Insel. Die Eiszeit schob ihren Geestkern zusammen; der Rest – siehe Nöck.

Der Sand und das Meer waren von jeher das Schicksal der Insulaner, und sie sind es bis in die Tage der Sommerfrische, der Kinderverschickung und des Surftourismus. Denn der Boden von Amrum gibt nichts her, wovon sich eine Familie ernähren könnte. Immer blieb nur die Wahl, das Glück entweder auf See zu suchen oder unten am Kniepsand, dem von Touristen geschätzten weißen Strand, der den Amrumern jahrhundertelang seine Meeresfrüchte der besonderen Art darbot: schwimmendes, von den Wellen herbeigerolltes Gut aller Art, eine Ladung Rundhölzer, Schiffsmasten, Planken – den Strandsegen. Selbst ihr Bauholz lieferte den Insulanern nicht ihre karge Insel, sondern das Meer. Beim Renovieren seines alten Hauses findet fast jeder ein paar Bohlen aus Strandholz. Und einer stieß sogar auf das aufgeschraubte Schildchen, das mitteilt, auf welchem versunkenen Schiff der eingebaute Mast einmal stand: S. S. Greystoke.

Seefahrt, Strandsegen oder Strandraub – über Jahrhunderte waren sie die wichtigsten Erwerbsquellen der Insel. Denn Amrum liegt gut. Wie eine riesige Schiffsfalle lauert die Insel in der Nordsee, und vor der Zeit von Radar und Satellitennavigation ging so manche Bark hinein und so manche Ladung. Vorgelagerte Sandbänke und Untiefen fingen sie ab, und der Kniepsand schaufelte auf, was das Meer von ihr heranrollte.

Auch ist die Sache mit den falschen Navigationsfeuern durchaus kein Seemannsgarn. Wollte das Meer einmal nicht so wie sie, wußten die Insulaner dem Strandsegen nachzuhelfen und das nächstbeste Schiff ins Verderben zu locken. Dann kam einer aus den Dünen gelaufen, dann pochte und flüsterte es: „Schiff auf Strand!“ Dann hieß es, alles liegen und stehen zu lassen, hinunter zum Kniepsand zu eilen und zusammenzuraffen, was antreibt, und ab damit in die Dünen, bevor der Strandvogt einen erwischt: Bauholz, Brennholz, einen Sack Kaffee, ein Fäßchen Rum, was immer das Meer in seiner großen Güte der armen Insel zukommen ließ. Manchmal legte es eine Leiche dazu. Die ließ man liegen, die sollte der Strandvogt holen, dazu war er da. Dazu stand ja die Dodenmannskist auf seinem Hof immer parat.

Manche Strandleiche wurde anhand von Dokumenten identifiziert und von den Angehörigen heimgeholt. Bis dahin wurde sie in einem schwarzen Schuppen in Nebel aufgebahrt oder auch vorläufig beigesetzt. Noch in den fünfziger Jahren trieb die Besatzung eines im Sturm untergegangenen Kutters an, wurde provisorisch begraben und später exhumiert. Noch bis vor hundert Jahren hatte man die unbekannten unter den angetriebenen toten Seeleuten ohne viel Aufhebens in den Dünen verscharrt. Dann spendete Johannes Jensen, damals Strandvogt in Nebel, ein kleines Grundstück vorm Dorf – die Unglücklichen sollten wenigstens ein anständiges Grab erhalten. Seitdem hat Nebel den „Friedhof für Heimatlose“.

Ein kleiner Acker, eingefaßt von Flieder, Stechginster, windgebeugten Kiefern. Vier weiße Bänke, eine in jeder Ecke: Sitzt da jemand? Und zwei Reihen Gräber, jedes mit einem schlichten Holzkreuz, darauf der Tag, an dem der Tote am Strand erschien. Eine dritte Reihe eröffnete die jüngste Leiche am 4. Juni 1969. Die älteste machte am 23. August 1906 den Anfang. Manche Kreuze stehen nebeneinander und tragen dasselbe Datum oder ein wenige Tage entferntes: Gefährten im Unglück, Brüder im Namenlosen. Es hat geregnet. An den Querbalken der Kreuze hängen die Tropfen im Gegenlicht des Abends wie Tränen.

Wenn so ein armer Hund dort draußen in die Erde gelegt wurde, nahm das Dorf regen Anteil. Der Pastor sagte es nach dem Gottesdienst an, und viele Nebeler gingen mit. An den Eingang des Friedhofs der Fremden haben sie Tobias 1, Vers 20 geschrieben: „Die Erschlagenen und Toten begrub er sorglich“, und auf einen Findling Lukas 10, Vers 20: „Freuet euch, daß eure Namen im Himmel geschrieben sind“. Dieser melancholische, dabei schöne Friedhof, dem man die Aufmerksamkeit und die Pflege ansieht, ist wohl nicht zuletzt der Versuch, das Schicksal zu besänftigen – das ungewisse Schicksal der Eigenen, von denen viele Monate, mitunter jahrelang keine Kunde kam. Und wenn das Schiff endlich zur Insel der Witwen und Waisen zurückkehrte, ohne den Mann, den Vater, den Sohn, dann half der Gedanke: Vielleicht, daß an einem fernen Strand irgendein Unbekannter, dem ein anderes Meer einen der Unsrigen hinlegt, so handelt wie wir und an ihm wiedergutmacht, was wir an denen getan haben, die unser Meer auf den Kniepsand warf – einem, der keinen guten Tod hatte, ein gutes Grab geben.

Es ist wie mit der heiligen Gastfreundschaft des Beduinen, nur daß die Gäste hier allesamt Tote sind. Es ist die alte, Vorleistung gegen Reiseglück bietende, Gnade gegen Demut erhoffende Denk- und Handlungsweise von Leuten, die selber Reisende sind und der Gastfreundschaft bedürfen, und sei es dieser letzten. Die mit der launischen Macht namens Schicksal auf vertrautem Fuße stehen. Die wissen: See gibt, See nimmt. Der Tod des einen ist der andern Glück. Heute segnet der Untergang eines fremden Schiffes meinen Strand, morgen schon kann die Nachricht vom Untergang des geliebten Mannes eintreffen.

Viele Amrumer blieben draußen. Es war fast ein Wunder, wenn sie zurückkamen aus den Eisbergen des Nordmeeres in ihren Nußschalen. Fast alle fuhren zur See, einer zog den andern nach, den Bruder, Neffen, Nachbarn. Sie fuhren als Kommandeur auf eigenen Planken, als Kapitän, Steuermann, Matrose auf den Handelsschiffen der Holländer, Dänen und Hamburger, als Walfänger und Robbenschläger im nördlichen Eismeer oder als Goldgräber nach Australien. Im achtzehnten Jahrhundert gab es Walfangschiffe, auf denen von sechzig Mann Besatzung die Hälfte aus Amrum kam. Heute ist es das Eis, das so ein Schiff zerquetscht, morgen rafft eine tropische Krankheit die Männer hin, ein andermal holen sie die Piraten.

„Hier liegt der grosse Kriegesheld / ruht sanft auf Amrons Christen Feld.“ So beginnt der Lebensbericht auf Harck Olufs’ Grabstein auf dem anderen Friedhof von Nebel, dem Kirchhof der Eigenen. Der Acker der Heimatlosen mit seinen schlichten Holzkreuzen ist eine Liebesgabe. Dieser hier ist ein Kunstwerk. Auf dem Höhepunkt des Walfangs und der Seefahrt der Amrumer, im 17. und 18. Jahrhundert, perfektionierten die Steinmetze ihr Können. Die barocken Grabsteine geben regelrechte Lebensbeschreibungen in Wort und Bild. Im Giebel bilden sie die Schiffe der entschlafenen Kommandeure ab, in allen Einzelheiten, in voller Fahrt mit geschwellten Segeln oder abgetakelt im Hafen. Der Heimatforscher Georg Quedens hat sie alle bewahrt. Er hat sie in vielen Broschüren beschrieben, sich durch Zentner Strandungsprotokolle und anderes Archivgut gegraben. Seit vierzig Jahren gräbt der Amrumer rastlos gegen die große Wanderdüne Vergessen an.


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mare No. 11

No. 11Dezember / Januar 1998

Von Wolfgang Büscher und Holger Floß

Wolfgang Büscher, geboren 1951, Reporter und Buchautor, lebt in Berlin. Zuletzt erschien: Drei Stunden Null. Deutsche Abenteuer, Alexander Fest Verlag, 1998, 176 Seiten, 36 Mark.

Holger Floß, geboren 1958, studierte Fotografie in Bielefeld und lebt als freier Fotograf in Berlin.

Lieferbar sind von Georg Quedens u.a.: Die alten Grabsteine auf dem Amrumer Friedhof, Verlag Foto-Quedens 1984, 192 S., 29,80 Mark, und Amrumer Abenteuer (mit Harck Olufs’ Biographie), Verlag Hansen & Hansen, Itzehoe 1970, 80 S., 7,80 Mark

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Vita Wolfgang Büscher, geboren 1951, Reporter und Buchautor, lebt in Berlin. Zuletzt erschien: Drei Stunden Null. Deutsche Abenteuer, Alexander Fest Verlag, 1998, 176 Seiten, 36 Mark.

Holger Floß, geboren 1958, studierte Fotografie in Bielefeld und lebt als freier Fotograf in Berlin.

Lieferbar sind von Georg Quedens u.a.: Die alten Grabsteine auf dem Amrumer Friedhof, Verlag Foto-Quedens 1984, 192 S., 29,80 Mark, und Amrumer Abenteuer (mit Harck Olufs’ Biographie), Verlag Hansen & Hansen, Itzehoe 1970, 80 S., 7,80 Mark
Person Von Wolfgang Büscher und Holger Floß
Vita Wolfgang Büscher, geboren 1951, Reporter und Buchautor, lebt in Berlin. Zuletzt erschien: Drei Stunden Null. Deutsche Abenteuer, Alexander Fest Verlag, 1998, 176 Seiten, 36 Mark.

Holger Floß, geboren 1958, studierte Fotografie in Bielefeld und lebt als freier Fotograf in Berlin.

Lieferbar sind von Georg Quedens u.a.: Die alten Grabsteine auf dem Amrumer Friedhof, Verlag Foto-Quedens 1984, 192 S., 29,80 Mark, und Amrumer Abenteuer (mit Harck Olufs’ Biographie), Verlag Hansen & Hansen, Itzehoe 1970, 80 S., 7,80 Mark
Person Von Wolfgang Büscher und Holger Floß