Sisyphos stemmt längst keine Felsbrocken mehr, er fährt heute Lastwagen, und zwar im südenglischen Dungeness. Dort ragt ein Landzipfel, ganz aus Kieselsteinen, gen Osten in den Ärmelkanal hinaus. Die Wellen kommen hier vorwiegend aus Südwest, und die Einheimischen schwören, dass man hören kann, wie die Kiesel rumpelnd nach Osten rollen, bis die Strömung sie auf der anderen Seite der Halbinsel wieder freigibt. Das wäre nicht der Erwähnung wert, stünde auf besagtem Landzipfel nicht ausgerechnet ein Atomkraftwerk, das bei fortgesetztem Kieselverlust in Gefahr geriete, über- oder unterspült zu werden. Auf tritt Sisyphos: Im Osten baggert er den angeschwemmten Kies auf seinen Lastwagen, fährt ihn dann auf die andere Seite der Landspitze, um ihn dort in die Lücke zu kippen, die das Meer gerissen hat. Die Wellen rauben den Kies, Sisyphos fängt ihn am Oststrand wieder ein und so weiter. 30000 Kubikmeter Geröll bleiben so für immer in Bewegung.
Küstenerosion heißt der Uferfraß bei Fachleuten, in den Medien firmiert er, Abteilung „Vermischtes“, meist als Naturkatastrophe: hier die Villa in Florida, die gerade von Wellen zerlegt wurde; dort die Grabsteine auf dem dänischen Friedhof, die mit der unterhöhlten Steilküste abstürzten – Küstenerosion. Doch das Wort von der Katastrophe führt in die Irre, wie das Beispiel Dungeness demonstriert. Erosion ist nicht das unvorhersehbare, furchtbare Unglück, sondern im Gegenteil der Alltag, ein natürlicher Prozess, so alt wie die Geschichte der Meere. Wo Wellen schwappen, wirbeln Sedimente; wo große Brecher Energie freisetzen, werden sogar Steine zertrümmert und zermahlen. Mit der Unterströmung wird die sandige Fracht aufs Meer gesaugt, wo sie mit den Strömungen entlang der Küste zieht, um an anderer Stelle wieder deponiert zu werden.
Land vergeht, Land entsteht; die See nimmt, die See gibt – ein ewiger Kreislauf. Zu einem Ereignis, das den Titel Katastrophe auch verdient, kommt es erst, wenn sich der Mensch gegen diese natürlichen Zyklen stellt. Zu den bewegenden Bildern vom Haus an der Abbruchkante bemühen Berichterstatter gern die Metapher vom Meer, das unaufhaltsam vorrückt, als gäbe es da draußen tatsächlich einen Schwarm, der die Gewalten der Natur bewusst lenkt. Doch dieser paranoide Reflex verdreht die Verhältnisse: Wenn hier jemand vorrückt, dann ist es der Mensch. Überall ist er auf dem Vormarsch und erobert Territorien, die eben noch dem Ozean gehörten: Er deicht ein, trocknet aus, schüttet zu, planiert; er setzt Neubausiedlungen auf geraubten Grund und künstliche Inseln, platziert Hotels und Kraftwerke direkt am Ufer. Der aufmerksame Beobachter erkennt die Parallele zu
Elb- und Rheinfluten: Wie Flüsse brauchen auch Meere eine Zone, in der sie sich ausbreiten können, wenn es das Wetter so will. Doch heute verschenkt der Mensch keinen Meter mehr, weder an der Elbe noch am Ärmelkanal.
Sicher, der Spiegel der Meere steigt, was die Problematik verschärft. Der Klimawandel lässt Gletscher schmelzen, das Wasser der Ozeane wird wärmer und dehnt sich da-bei aus. Bis zum Ende dieses Jahrhunderts müssen wir mit 50 bis 90 Zentimetern mehr Meer rechnen – und einer Zunahme der Wetterextreme. Doch obwohl die Wissenschaft ihre Mahnungen gebetsmühlenartig wiederholt, hält der Zug ans Meer unvermindert an. Wenn Meeresforscher der Woods Hole Oceanographic Institution auf Cape Cod in diesem Zusammenhang von einer „steigenden Flut“ schreiben, dann meinen sie Menschen, nicht Wassermassen. „Die Bevölkerung der US-Küste wächst derzeit jeden Tag um 3500 Menschen.“ Auf der anderen Seite des Atlantiks haben britische Wissenschaftler festgestellt, dass „31 Prozent der englischen und walisischen Küstenlinie bebaut sind … und 40 Prozent der Industrie direkt an der Küste siedeln“. Interessant auch diese Zahl: In den vergangenen Jahrtausenden gingen allein in England 91250 Hektar Fläche verloren – an die „Küstenerosion“ von der anderen Seite; fast 1000 Quadratkilometer Meer sind heute Land. Der Mensch nimmt – aber er gibt nur ungern wieder her. Auf 15100 Kilometer Küste, so steht es im „Eurosion“-Bericht der Europäischen Union, kracht die See so gewaltig auf den Kontinent, dass Landverlust droht. Also bauen die Ingenieure Bollwerke, um zu wahren, was der Mensch geschaffen hat. Küstenschutz, sea defense, défense côtière – so heißen unsere Verteidigungslinien im gefühlten Krieg gegen den Ozean. Das militärische Vokabular scheint angemessen angesichts der monströsen Strukturen, die unsere Küsten schützen. Wälle aus Granit werden aufgetürmt, gigantische Tetrapoden, Mauern aus Stahl und Beton. Doch auch sie können die Natur auf Dauer nicht stoppen. Auf 2900 Kilometer Küste verliert Europa an Boden – allen Anstrengungen zum Trotz; auf weiteren 4700 Kilometern halten sich die Kräfte die Waage. Wie lange noch?
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Der Fotograf Jonathan Olley, geboren 1967 in London, fuhr ein Jahr lang die Küsten Englands ab. Alarmiert von den Vorhersagen der Klimaforscher, dokumentierte er die Hilflosgkeit der Küstenschützer. Sein Fotoessay wurde 2005 von der Association of Photographers ausgezeichnet.
Olaf Kanter, geboren 1962, ist mare-Redakteur für Wirtschaft und Wissenschaft.
Vita | Der Fotograf Jonathan Olley, geboren 1967 in London, fuhr ein Jahr lang die Küsten Englands ab. Alarmiert von den Vorhersagen der Klimaforscher, dokumentierte er die Hilflosgkeit der Küstenschützer. Sein Fotoessay wurde 2005 von der Association of Photographers ausgezeichnet.
Olaf Kanter, geboren 1962, ist mare-Redakteur für Wirtschaft und Wissenschaft. |
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Person | Von Olaf Kanter und Jonathan Olley |
Vita | Der Fotograf Jonathan Olley, geboren 1967 in London, fuhr ein Jahr lang die Küsten Englands ab. Alarmiert von den Vorhersagen der Klimaforscher, dokumentierte er die Hilflosgkeit der Küstenschützer. Sein Fotoessay wurde 2005 von der Association of Photographers ausgezeichnet.
Olaf Kanter, geboren 1962, ist mare-Redakteur für Wirtschaft und Wissenschaft. |
Person | Von Olaf Kanter und Jonathan Olley |