Schwimmendes Metropolis

Die „Freedom“ soll eine Großstadt werden, die um die Welt fährt: 1300 Meter lang und mit über 100000 Menschen an Bord

Kapstadt liegt noch im Schatten des Tafelbergs. Doch die Wolken, die sein Tischtuch bilden, werden bereits von der Sonne erfasst. Architekt Hans Lechberg genießt den Morgen auf der Terrasse seines Apartments im 20. Stock. Über den Monitor im Arbeitszimmer flimmern gerade seine neuesten Entwürfe und wandern online in den weit entfernten Firmencomputer. Während Lechbergs Frau in der Küche ihrem Sohn noch rasch Schulbrote schmiert, ist Tochter Hannah bereits mit der U-Bahn auf dem Weg zur Uni. Gleich muss Ehepaar Lechberg zum Flughafen, um die Großeltern abzuholen. Sie kommen für drei Wochen zu Besuch.

Eine alltägliche Szene, die so in jeder größeren Stadt spielen könnte. Doch dass Architekt Lechberg kürzlich noch vor der Skyline von Sydney Entwürfe zeichnete und davor in der Bucht von Bangkok, macht die Szene spektakulär. Denn sein Apartment befindet sich an Bord der „Freedom“, dem größten Schiff aller Zeiten. Über 40000 Menschen dient es als Wohnsitz, hinzu kommen 16000 Mann Bordpersonal und rund 40000 touristische Besucher. Insgesamt kann die „Freedom“ bis zu 115000 Menschen aufnehmen. Eine City auf Kreuzfahrt – 1,3 Kilometer lang, 221 Meter breit und 100 Meter hoch. Selbst der US-Flugzeugträger „Nimitz“, mit über 300 Meter Länge das größte Kriegsschiff der Welt, erscheint neben diesem schwimmenden Metropolis unbedeutend. Spinnereien eines Megalomanen?

„Die ,Freedom‘ ist keine Utopie“, kommentiert Horst Nowacki vom Institut für Schiffs- und Meerestechnik der Technischen Universität Berlin das ambitionierte Projekt, „jedenfalls nicht in technischer Hinsicht.“ Die „graue Eminenz“ des deutschen Schiffbaus hat für mare die bislang vorliegenden Pläne kritisch durchgesehen, ihre Eckdaten nachgerechnet und resümiert: „Der Bau ist lediglich eine Frage des Geldes. Ist genügend Kapital vorhanden, kann die ,Freedom‘ ohne weiteres realisiert werden.“ Angesichts weiterhin wachsender Bevölkerungszahlen hält Nowacki die Erschließung der Meere als Wohnraum sogar für zukunftsweisend: „Früher oder später wird es derartige Großprojekte geben.“ Die „Freedom“ könnte somit zum Modell meerestauglicher Metropolen werden, die Großstädte wie Tokio oder New York entlasten.

Erdacht wurde die „Freedom“ Anfang der 90er Jahre von dem US-Ingenieur Norman L. Nixon. Der Leiter der Engineering Solutions Inc. (ESI) sieht in der „City at Sea“, wie er sein Kind nennt, die „Verwirklichung eines Menschheitstraums“. In ungefähr zehn Jahren soll nach dem Willen Nixons das metallische Weltwunder des 21. Jahrhunderts alle zwei Jahre die Erde umrunden, immer den warmen Jahreszeiten auf der Spur. Die „Freedom“ wird dabei keinen Hafen anlaufen, sondern selbst einer sein und somit das Ziel vieler Schiffe und Menschen.

Inzwischen ist der zweistrahlige Airbus mit Lechbergs Eltern auf der Rollbahn gelandet, die das Oberdeck im 25. Stock der „Freedom“ einnimmt. Sofort wird die Düsenmaschine der neuen Generation in einen Hangar unter der Landebahn gefahren. Neben zahlreichen Fluglinien, die „Freedom Airport“ regelmäßig anfliegen, besitzen viele Bewohner eigene Jets, die rund um die Uhr gewartet werden können. Bevor sich die Lechbergs in die Arme fallen, müssen sie noch aufwendige Sicherheitschecks über sich ergehen lassen. Denn das Riesenschiff ist auch Residenz der High-Society und daher ein attraktives Ziel für Dunkelmänner und Entführer. Der Jachthafen am Heck, wo sogar Cruiseliner anlegen können, bildet ein zusätzliches Sicherheitsrisiko angesichts moderner Piraten, die, ausgerüstet mit Schnellbooten und Automatikwaffen, weltweit große Schiffe entern. Jeder Winkel der „Freedom“ wird daher von einem Überwachungssystem gescannt. Teams uniformierter und ziviler Sicherheitskräfte patrouillieren auf allen Decks.

Stürmisch begrüßen sich die Lechbergs. Es ist der erste Besuch der Senioren an Bord. Sie sind von dem wiederauferstandenen Atlantis schwer beeindruckt. Lichtdurchflutete Einkaufspassagen, immergrüne Biotope und künstliche Wasserfälle schaffen die Atmosphäre einer gigantischen Shopping Mall. Man beschließt, erst einmal gepflegt essen zu gehen. Die Wahl des Restaurants fällt nicht leicht, denn die „Freedom“ verfügt über viele erstklassige Gourmet-Tempel, die sich in aufwendig gestalteten Sektionen befinden. Da alle Lechbergs die Haute Cuisine schätzen, fährt man in der Metro zum französischen Viertel mit seinen zahlreichen Boutiquen und Läden.

Die rund 400 Geschäfte an Bord der „Freedom“ sind bereits vergeben, macht die US-Zentrale der ESI geltend. Kein namhaftes Unternehmen könne es sich leisten – sollte dieser „Pyramidenbau im Ozean“ tatsächlich gelingen –, nicht vertreten zu sein. So haben sich laut ESI Firmen von Chanel bis McDonalds entsprechende Optionen vertraglich gesichert. mare liegt als Kopie der „Letter of Intent“ eines namhaften internationalen Couturiers vor, ein Vorvertrag mit Kaufzusage. Da an Bord keine lokalen Steuern erhoben werden, spricht Norman L. Nixon vom „größten zollfreien Shopping-Center der Welt“. Dennoch wird die „Freedom“ kein floatendes Steuerparadies sein, denn für die Entrichtung der Einkommens- oder Quellensteuer gilt das Steuerrecht des Landes, unter dessen Flagge das Schiff fahren wird. Wer nur vorübergehend an Bord lebt, wird ohnehin in seinem Heimatland veranlagt. Ansonsten gelten wie für jedes Kreuzfahrtschiff entsprechende internationale Abkommen. Schiffsbewohner in Permanenz und Neugeborene erhalten die Nationalität des Landes, unter dessen Flagge die „Freedom“ fährt. „Über 1300 Apartments sind bereits verkauft“, verbreitet Daniel Pape, Inhaber der Firma PlatinSoft, Zweckoptimismus, „die Finanzierung der ersten Bauphase gilt daher als gesichert.“ Die Stuttgarter Agentur vertritt das US-Unternehmen in Deutschland.


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mare No. 14

No. 14Juni / Juli 1999

Von Bernd Flessner

Bernd Flessner, Jahrgang 1957, ist Literaturwissenschaftler und Zukunftsforscher und arbeitet als Lehrbeauftragter an der Universität Erlangen-Nürnberg. Im Sommer erscheint sein Kinderbuch Nach uns die Sintflut. Von Sehern, Orakeln und Zukunftsforschern. In mare No. 13 schrieb er über Städte am Meeresgrund.

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Vita Bernd Flessner, Jahrgang 1957, ist Literaturwissenschaftler und Zukunftsforscher und arbeitet als Lehrbeauftragter an der Universität Erlangen-Nürnberg. Im Sommer erscheint sein Kinderbuch Nach uns die Sintflut. Von Sehern, Orakeln und Zukunftsforschern. In mare No. 13 schrieb er über Städte am Meeresgrund.
Person Von Bernd Flessner
Vita Bernd Flessner, Jahrgang 1957, ist Literaturwissenschaftler und Zukunftsforscher und arbeitet als Lehrbeauftragter an der Universität Erlangen-Nürnberg. Im Sommer erscheint sein Kinderbuch Nach uns die Sintflut. Von Sehern, Orakeln und Zukunftsforschern. In mare No. 13 schrieb er über Städte am Meeresgrund.
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