Schwimmen im Lichtmeer

Luftfahrt und Seefahrt gründen in derselben Ästhetik. Für die ersten Luftschiffer waren Himmel und Meer fest verbunden

Mitten in der Hochphase der Aufklärung, die sich doch auf die Fahnen geschrieben hatte, ein für alle Mal mit Aberglauben und magischem Firlefanz aufzuräumen, ereignete sich ein handfestes Wunder: das von Annonay am 5. Juni 1783, der erste offiziell bestätigte unbemannte Aufstieg eines Heißluftballons der Brüder Montgolfier. In der Geschichte der Luftfahrt gilt 1783 seither als das Jahr der technischen Realisierung des ewigen Menschheitstraums vom Fliegen. Allein, das Personal des damaligen Großereignisses am Rhônetal will sich nicht in die beliebte Dramaturgie moderner Fortschrittseuphorie einfügen. Unter den neuen Luftschiffern und staunend am Boden Zurückgebliebenen finden sich kaum Entzauberte und zur Vernunft Gebrachte, sondern Entrückte und Verzückte, Genießer und Abenteurer, Träumer und Enthusiasten.

Da scheint es zunächst fast passend, dass am Himmel keine windschnittigen Fluggeräte unterwegs waren, sondern sanft dahingleitende Seefahrzeuge durch ein bonbonfarbenes Wolkenmeer schwebten. Doch das entsprach der zeitgenössischen Wahrnehmung: Die himmlischen Gefilde scheinen in dieser Perspektive weniger luftig und ätherisch denn feucht und fischig gewesen zu sein. Luftschiffer und Luftschwimmkünstler ruderten in barocken Muschelgondeln an Fischballonen vorbei. Wer sich die Bilder des damaligen Treibens ansieht und dem vielfältigen Stimmenmeer vorurteilsfreie Aufmerksamkeit schenkt, gelangt zur Einsicht, dass die Rede vom „unerforschten Äthermeer“ eine unhinterfragte Konstante war, ja dass Himmel und Meer fest miteinander verbunden waren: Wer in die Wolken fuhr, bewegte sich gleichsam ins Ozeanische, so scheint es damals für jedermann auf der Hand gelegen zu haben. Die Ästhetik der Luftfahrt war genuin maritim. Nicht Flugobjekte, sondern fliegende Meeresfahrzeuge bevölkern den Himmel wie die kollektive Imagination.

Georg Christoph Lichtenberg imaginiert 1784 das ungeheure Vergnügen einer Ballonfahrt: „Man bedenke auch nur das Atmen der Alpenluft, das Baden, Plätschern und Schwimmen im Lichtmeer und in Gesellschaft der Morgensterne, während die Hälfte der Welt unter einem noch im Schlamm der Nacht ruht.“ Im selben Jahr, wenige Monate nach dem ersten Ballonaufstieg in Annonay, veranstaltete die Akademie der Wissenschaften zu Lyon ein Preisausschreiben „sur la direction des aérostates“, bei dem mehr als 100 Lösungsvorschläge eingingen. Neben der Idee, Ballone mithilfe von zahmen Vögeln zu lenken, dominierten die Assoziationen zum Wasser und zur Schifffahrt. Um das unerforschte Äthermeer zu bereisen, wurden Schlagflügel, Segel oder Ruder ersonnen, häufig auch die Ballone selbst als Fische gestaltet.

Ein gewisser Baron de Scott schreibt, dass man, um ein lenkbares Luftfahrzeug zu bauen, sich nur den Fisch zum Modell nehmen dürfe, und fügt die Ansicht seines Freundes, des Grafen Milly, hinzu, dass es nur der Kugelfisch Orbis echinatus sein könne, nach dessen Vorbild Bewegung und Lenkung des Luftballs bewirkt werden könnten. Auch der bekannte Autor aeronautischer Schriften August Wilhelm Zachariae referiert zu Anfang des 19. Jahrhunderts die allgemeine Überzeugung, dass „die ganze Form des Luftfahrzeugs umgeändert und dem Fische ähnlich gemacht werden müsste“, um eine Lenkbarkeit von Luftballonen zu erreichen. 1803 erscheint gleich ein ganzes Seebuch, in dem Jean Paul die Abenteuer des Luftschiffers Giannozzo im Fisch-Eden und in anderen luftigen Meeren beschreibt.

Für die Idee, Flugobjekte als Segelschiffe und Ruderboote zu gestalten, finden sich bereits Beispiele in den frühen Luftschiffentwürfen des 16. und 17. Jahrhunderts. Ballone in Fischform jedoch sind ein absolutes Novum. Die Geschichte der Ballonfahrt geht auf die Herkunft dieser maritimen Himmelsvorstellungen kaum ein. Entweder werden Segel, Ruder und Fischformen als ahnungsvoller Vorgriff auf die später entdeckten Strömungseigenschaften der Luft und die korrespondierende Entwicklung aerodynamischer Formen gedeutet – oder als Hilflosigkeit. Die Zeitgenossen seien „damals“ schlichtweg zu verwirrt und unwissend gewesen, um die neue Technik zu begreifen, und hätten deshalb auf den Vergleich mit der Seefahrt als das noch am ehesten Praktikable zurückgegriffen.

Bei solch allzu schlichten Zuschreibungen wird jedoch übersehen, dass die Gleichsetzung von Fliegen und Schwimmen ein allseits bekannter wie akzeptierter Gemeinplatz der abendländischen Kultur war. Wie in Zedlers Universallexikon von 1735 nachzulesen ist, sei der Mensch zwar nicht zum Fliegen gemacht, könne dieses jedoch ebenso erlernen wie das Schwimmen. Denn da zwischen dem Wasser und der Luft ziemliche Gleichheit sei, müsse es so gut in diesem als in jenem Element angehen. Ein Fischballon ist somit weniger Ausdruck einer verwirrten Fantasie als vielmehr der eines belesenen Forschergeistes.


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mare No. 80

No. 80Juni / Juli 2010

Von Natascha Adamowsky

Natascha Adamowsky, Professorin für Kulturwissenschaftliche Ästhetik am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität Berlin, lehrt und forscht im Bereich ludische Erkenntnistheorie, Medienästhetik und Wissenskultur. Ihre aktuellen Projekte behandeln das Dispositiv des Wunderbaren in der Moderne, die Medialität des Anormalen sowie Ubiquitous-computing-Anwendungen im Modus des Spieles.

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Vita Natascha Adamowsky, Professorin für Kulturwissenschaftliche Ästhetik am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität Berlin, lehrt und forscht im Bereich ludische Erkenntnistheorie, Medienästhetik und Wissenskultur. Ihre aktuellen Projekte behandeln das Dispositiv des Wunderbaren in der Moderne, die Medialität des Anormalen sowie Ubiquitous-computing-Anwendungen im Modus des Spieles.
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Vita Natascha Adamowsky, Professorin für Kulturwissenschaftliche Ästhetik am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität Berlin, lehrt und forscht im Bereich ludische Erkenntnistheorie, Medienästhetik und Wissenskultur. Ihre aktuellen Projekte behandeln das Dispositiv des Wunderbaren in der Moderne, die Medialität des Anormalen sowie Ubiquitous-computing-Anwendungen im Modus des Spieles.
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