Schutzengel mit Argusaugen

Gekenterte Segler bekommen Hilfe aus dem Orbit

Tony Bullimore weiss sofort, dass seine Lage nahezu aussichtslos ist. Seine Yacht „Exide Challenger“ ist im Orkan gekentert, der Kiel glatt abgebrochen. Ohne die Flosse mit ihrem 4,5 Tonnen schweren Bleigewicht kann sich der Zweimaster nicht wieder aufrichten. Bullimore ist im Rumpf seiner Yacht gefangen. Er hat Atemluft für sechs Tage.

Der britische Einhandsegler ist 1000 Seemeilen (fast 1900 Kilometer) von der nächsten Schifffahrtsroute entfernt, 800 Meilen nördlich der Antarktis. Auf dem ganzen Planeten gibt es keinen Ort, wo Retter einen weiteren Weg gehabt hätten. Bullimore bleibt nur eines – das Vertrauen auf seinen Schutzengel.

Der fliegt in 850 Kilometer Höhe über der Yacht (und ist damit näher am Geschehen als jeder Helfer). Die Hoffnung des Seglers richtet sich allein auf die Satelliten der US-Meeresbehörde (NOAA), die mit dem Ortungssystem „Argos“ ausgerüstet sind. Anders als der sagenhafte griechische Riese gleichen Namens, der mit hundert Augen über eine kostbare Kuh wachte, schauen die Satelliten nur mit einem „Auge“ auf die Welt. Aber dank ihrer überlegenen Aussicht können sie ein paar Tausend Schutzbefohlene gleichzeitig im Blick behalten – solange diese einen mobilen Sender dabei haben.

Argos kommt seit Ende der siebziger Jahre zum Einsatz, wenn Forscher Bojen driften lassen, um die Strömungen der Ozeane zu vermessen oder wenn Zoologen die Wanderungen von Eisbären oder die Reise von Zugvögeln verfolgen – der kleinste Argos-Sender wiegt 17 Gramm. Oder wenn die Veranstalter von Off-Shore-Regatten mit Hilfe der Argusaugen im Orbit ihre Flotte beobachten.

Ein Argos-Sender der „Exide Challenger“ funkt regelmäßig Kennung und Position der Yacht an die Regattaleitung in Frankreich. Einen zweiten aktiviert Bullimore jetzt im Alarm-Modus. Alle 60 Sekunden geht sein Hilferuf mit einem Impuls von 401,65 Megahertz ins All.

14-mal am Tag umrunden die NOAA-Satelliten die Erde. Spätestens 100 Minuten nachdem Bullimore den Notsender aktiviert hat, kommen sie in den Bereich, wo sie das Signal empfangen können. Argos leitet den Notruf an die Rettungszentrale im französischen Toulouse weiter. Von dort geht ein Telex an die Kollegen in Canberra: „Notsignal von der ,Exide Challenger‘. Position 52° 03,8“ S/100° 30,5“ E.“ Australien ist 1300 Meilen vom Un-glücksort entfernt. Näher dran ist keiner.

Die Australier bitten die Schifffahrt im südlichen Indischen Ozean um Unterstützung: „Schiffe im 200-Meilen-Umkreis der Yacht bitte melden!“ Aber es kommt keine Antwort. Auch von einem weiteren Einhandsegler nicht, der laut Argos in denselben Orkan gesegelt ist wie Bullimore: der Franzose Thierry Dubois mit seiner Yacht „Amnesty International“.

Bei seiner nächsten Runde meldet Argos vier Signale, jeweils zwei dicht zusammen. Für die Leute auf der Rettungsleitwarte ist jetzt klar: Beide Segler sind in Not. Entweder sitzen sie in ihren Rettungsinseln, oder sie haben Sendebojen aktiviert, die von den Yachten wegtreiben. Die Rettungsaktion läuft an.

Von Perth starten vier Suchflugzeuge der australischen Luftwaffe. Nie vorher sind die Propellermaschinen vom Typ Lockheed P-3C Orion so weit zu einem Einsatz geflogen. Ausgangsspunkt ihrer Suche: die aktuelle Argos-Position der Yachten. Als die P-3C Orions dort ankommen, tobt der Sturm noch immer mit Stärke elf. Er treibt gischtweiße, 15 Meter hohe Wellenberge vor sich her. Das erste Suchflugzeug findet Dubois und wirft zwei Rettungsinseln ab. Die Crew der zweiten Maschine spürt die „Exide Challenger“ auf. Von Bullimore ist nichts zu sehen.

Am nächsten Morgen läßt der Wind nach. Die Rettungsflieger platzieren eine Sonarboje neben der „Exide Challenger“. Bei der Analyse der Geräusche, die unter Wasser von der Yacht zu hören sind, entdecken die Sonar-Experten das leise Pochen einer handbetriebenen Meerwasserentsalzungspumpe. Tony Bullimore lebt.

Drei Tage später, am 9. Januar 1997, werden Dubois und Bullimore von der australischen Fregatte „HMAS Adelaide“ geborgen. Argos und die Suchflugzeuge haben die Retter punktgenau zu den gekenterten Yachten gelotst.

Die Freude über die Rettung wird durch einen neuen Notfall gedämpft. Seit dem Vortag ist der Kanadier Gerry Roufs verschwunden. Im Zeitalter des Satelliten heißt „verschwunden“: keine Positionsmeldung. Kein Schutzengel, keine Chance.

mare No. 16

No. 16Oktober / November 1999

Von Olaf Kanter

Olaf Kanter, Jahrgang 1962, ist seit Juli 1999 mare-Redakteur für Wirtschaft und Politik. Vorher betreute er die Seite Drei der Tageszeitung Die Welt

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Vita Olaf Kanter, Jahrgang 1962, ist seit Juli 1999 mare-Redakteur für Wirtschaft und Politik. Vorher betreute er die Seite Drei der Tageszeitung Die Welt
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