Schrumpfen auf menschliche Grösse

Das Meer ist in seiner Konkretheit das perfekte Antidot gegen Zweifel – und gegen Größenwahn: Es lehrt uns gleichzeitig Bescheidenheit und Optimismus

Unsere Zivilisation ist mehr als jede vorherige maritim. Die Meere sind das Adernsystem, auf dem die Schlacken der Globalisierung treiben. Containerfrachter, schwimmende Wertstoffbehälter, überziehen heute die Wogen mit einem neuen System von Meeresströmen: Nach Zehntausenden TEU abgemessene Waren stampfen gegen die Passatwinde herauf und kreuzen den Golfstrom auf dem Weg nach Westen.

Die See ist mehr denn je unser Schicksal. Geduldig nimmt sie die Nebenprodukte unseres wirtschaftlichen Rausches auf. Mikroskopische Algen, die jeden Milliliter Meerwasser zu Hunderttausenden erfüllen, sind das wichtigste Zwischenlager für Kohlendioxid. Aus dem Treibhausgas schmieden Billiarden Einzeller winzige Panzer und nehmen es im Tod mit hinab in die Tiefe.
Doch die Ozeane sind eine Feder mit unvorstellbarer Elastizität, die auch in die andere Richtung zu schnellen vermag. Weil die zunehmenden Temperaturschübe das Gleichgewicht stören, mit dem sich planktische Pflanzen und ihre Fresser einander angepasst haben wie Insekten und Blumen auf einer Wiese, könnte die Pufferkapazität der See jederzeit in ihr Gegenteil umschlagen.

Die meisten düsteren Planspiele der planetarischen Zukunft kreisen um den Ozean: In immer schnellerer Rückkopplung ausperlendes Kohlendioxid, emporschießende Meeresspiegel, höhere Wellen und heftigere Stürme, Zusammenbruch der Weltfischerei und ein Golfstrom, der seinen Schwung verliert, sind einige der Szenarien, in denen die See in der Tat unser Schicksal sein wird.

Es könnte daher lohnen, einen zweiten Blick auf das Meer zu werfen. Was hat es auf sich mit dieser bodenlosen Tiefe, die den ganzen Planeten seit Jahrmilliarden in ihren blauen Falten geborgen hält? Einen zweiten Blick – das heißt einen Blick, der nicht ozeanografische oder klimatologische Probleme allein ins Auge fasst. Sondern der sich dem Meer stellt, wie es ist, als überwältigender Körper, der immer noch unabsehbar Leben enthält und der seine eigenen Rhythmen und Gesetze hervorbringt.

Wir sollten uns erinnern. Daran, dass jenes Wasser, dessen Salz an das Innere unserer eigenen Zellen gemahnt, nicht bloß ein Ding ist, eine Sache, die es technisch zu beherrschen gilt und die uns physikalisch zu überfordern vermag. Wir stehen mit dem Ozean möglicherweise noch in einem anderen Austausch. Er spiegelt nicht nur einen Teil unseres Körpers wider, sondern steht auch mit unserem seelischen Inneren in Verbindung, ganz so, als wäre die See das Unbewusste des Planeten.

Im ozeanischen Zeitalter der Globalisierung brauchen wir ozeanisches Denken – ein Handeln und Fühlen aus der Perspektive der See. Es könnte sein, dass hier manche Einsicht in die Nachhaltigkeit liegt, um die wir ringen: Einsicht, was es für Menschen heißen mag, ein Leben zu führen, das mit sich ins Reine kommt und sich nicht von unstillbarer Gier forttragen lässt.

Das Meer hat mir zwei solcher Schlüsselmomente geschenkt. Und doch sehe ich in ihnen auch Symbole unserer Zukunft auf diesem kleinen Planeten, der von Wasser erfüllt ist wie der Körper eines lebenden Wesens und den wir so verzweifelt mit unserer irdischen Ratio zu beherrschen versuchen.

Ende Februar 1994 fuhr ich auf dem Helgoländer Forschungsschiff „Heincke“ in der Nordsee. Ständig wehte es mit acht oder neun Windstärken. Schneeregen peitschte aufs Deck. Im Labor hakten wir die Füße um die Tischbeine, um nicht ständig wegzurutschen. Wir wurden auf unseren tausend Tonnen Stahl leichthändig durch eine unergründliche Dunkelheit geworfen. Morgens kam ich benommen von der Nachtschicht in die Kammer. Bevor ich zu schlafen versuchte, sah ich durch die salzverklebte Scheibe auf die grenzenlose Nordsee. Sie hatte ein tiefes, magisches Blau, das in wandernde Bergmassive und wiegende Täler zerrissen war, durchzogen von Gischtstreifen wie von flüchtigen Gletschern. Bis zum Horizont wogte diese flüssige Landschaft. Ich war mittendrin, auf dem fliegenden Stahlkörper, der jede Kontraktion des Ozeans so an mich weitergab, dass ich mich von den Farben durchdrungen fühlte, hingeschmolzen in einer wiegenden Metal-lurgie der Seele, die in mir zugleich unbeschreibliche Euphorie und abgründige Verlorenheit auslöste.

Die andere Begebenheit war die Jahrhundertebbe an der bretonischen Küste im Jahr zuvor. Als das Meer an jenem diesigen Wintertag von der Küste verschwand, wanderte ich mit angehaltenem Atem hinaus, weit an Felsen vorbei, über die sonst die Gischt flog. Das Meer zog seinen undurchdringlichen Mantel zurück, und es war, als könnte ich wie im Traum unter Wasser umherspazieren und all die Pracht mit Händen greifen: die Röhren seltsamer Würmer, die Furchenkrebse in ihren Steinverstecken, die Herbstfarben des Tangs, unter denen sich bizarre Wirbellose bargen. Überall plätscherte verborgenes Leben. Es war eine Welt, deren Übermaß ich immer geahnt, aber nie gesehen hatte. Für ein paar Viertelstunden war ich Teil einer unfassbaren schöpferischen Freiheit. Sie hatte reale Gestalt angenommen. Ich konnte sie begreifen, weil ich sie mit allen Sinnen berühren konnte.


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mare No. 65

No. 65Dezember 2007 / Januar 2008

Andreas Weber

Andreas Weber ist promovierter Philosoph und Meeresbiologe. In seinen Reportagen und Büchern geht er der Frage nach, welches schöpferische Band den Menschen mit der Natur verbindet. In diesem Jahr erschien von ihm im Berlin-Verlag Alles fühlt. Mensch, Natur und die Revolution der Lebenswissenschaften. Für mare schrieb er zuletzt in No. 45 einen Aufsatz über die Verwandtschaft von Wüste und Meer.

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Vita Andreas Weber ist promovierter Philosoph und Meeresbiologe. In seinen Reportagen und Büchern geht er der Frage nach, welches schöpferische Band den Menschen mit der Natur verbindet. In diesem Jahr erschien von ihm im Berlin-Verlag Alles fühlt. Mensch, Natur und die Revolution der Lebenswissenschaften. Für mare schrieb er zuletzt in No. 45 einen Aufsatz über die Verwandtschaft von Wüste und Meer.
Person Andreas Weber
Vita Andreas Weber ist promovierter Philosoph und Meeresbiologe. In seinen Reportagen und Büchern geht er der Frage nach, welches schöpferische Band den Menschen mit der Natur verbindet. In diesem Jahr erschien von ihm im Berlin-Verlag Alles fühlt. Mensch, Natur und die Revolution der Lebenswissenschaften. Für mare schrieb er zuletzt in No. 45 einen Aufsatz über die Verwandtschaft von Wüste und Meer.
Person Andreas Weber