Schönheit muss leiden

Wer sich nach einer schlanken Taille sehnt, der nehme Walbarten: die atemraubende Geschichte des Korsetts

Das Korsett gab nach und ließ seinen Träger schmählich im Stich. Ob nun Lady B in Ohnmacht fiel oder nur amüsiert lachte, ist nicht überliefert. Ihr Galan, ein Londoner Dandy des Jahres 1818, vertraute seinem Tagebuch an: „Habe Schneider und Korsettmacher kommen lassen – Cumberland-Korsett mit Fischbeinstangen bestellt. Vorsicht geboten! Korsett gab nach, als ich mich nach Lady Bs Handschuh bückte. Der Duke von C. war vulgär genug, zu lachen und mich mit falschem Seemannsakzent zu fragen, ob ich beim ‚Auftakeln ein paar Knoten vergessen‘ hätte.“

Vermutlich trug Lady B an diesem Abend selbst gar kein Korsett, denn in der langen Geschichte des Schnürleibs war den Frauen zwischen 1790 und 1825 ein Aufatmen erlaubt. Die Mode hatte sie für kurze Zeit vom Korsett befreit. Eingeschnürt, ausgesteift und abgepolstert dagegen stolzierten die Dandys durch die Londoner und Pariser Salons dieser Jahre. Ihre atemraubenden Wespentaillen verdankten sie dem Korsett. Um 1820 erreichte diese Männermode ihre Hochblüte; aber lange vorher und noch lange danach verhalfen modebewusste Männer und eitle Militärs mit Korsetts ihren Hängebäuchen zur gehobenen Form. Warum sollten sie sich nicht des gleichen Tricks bedienen, den die Frauen so erfolgreich angewendet hatten und bald wieder anwenden würden? Das Wichtigste am Korsett waren bei Mann und Frau die eingearbeiteten Stäbe, und die waren bei beiden Geschlechtern aus demselben besonderen Material: aus Fischbein. Gut drei Jahrhunderte lang war Fischbein die heimliche Stütze der europäischen Mode.

Fischbein. Der Fisch ist kein Fisch, und das Bein ist kein Bein. Der Fisch ist ein Wal und das Bein seine Barte. Nord- und Südkaper, Grau-, Blau-, Finn- und Buckelwale waren die am häufigsten gejagten und zu einem großen Teil fast ausgerotteten Bartenwale. Sie tragen an ihren Oberkiefern bis zu 600 Barten – 4,5 Meter lange, außen glatte und innen mit fransenartigen Borsten besetzte Hornplatten. Wie Zähne auf einem Kamm und leicht überlappend sind sie aufgereiht. Mit diesen riesigen Filteranlagen sieben die Wale Krill und anderes Futter aus dem Wasser. Sie öffnen das Maul, lassen Wasser einströmen, drücken es seitlich durch die Barten, und alles, was hängen bleibt, wird geschluckt. Die Barten sind fest und biegsam gleichzeitig. Sie bestehen aus parallel verlaufenden Fasern und sind mit einem hornartigen Schmelz überzogen. Ihre Farbe variiert von Gelb, Creme- und Brauntönen bis zu Violett, Dunkelgrau und Schwarz, oft in Streifen an derselben Barte kombiniert.

Es waren aber nicht seine Äußerlichkeiten, die dem Material zu seinem Siegeszug in Mode und Handwerk verhalfen, sondern seine Eigenschaften. Fischbein ist unzerbrechlich, leicht, biegsam, dauerelastisch und einfach zu bearbeiten. In heißem Wasser, über Dampf oder auf warmen Formen kann es gebogen werden und behält die Form nach dem Abkühlen bei. Es lässt sich leicht schneiden und feilen, und die parallel verlaufenden zähen Fasern erlauben es, selbst feinste Stäbchen herauszuschneiden. So war das Fischbein fast universell einsetzbar und dementsprechend gefragt. Als Schirmrippen, Ladestöcke, Peitschenstile, Fächerstäbe, Angelruten, Wagenfedern, Siebe, Netze, Bürsten und sogar Polstermaterial fanden die Barten Verwendung. Unentbehrlich wurden sie für die Mode: als Versteifung für Reifröcke, Puffärmel und Hüte und vor allem als Korsettstangen.

Schon zu Beginn des 16. Jahrhunderts verlangte die Frauenmode nach steifen Oberteilen, und die so genannten Miederstäbe hielten aufrecht, was nicht fallen durfte. Es waren Stäbchen aus Holz, Elfenbein oder Fischbein, die in der Mitte der Mieder eingesteckt wurden, um die gestreckte Form des Vorderteils aufrecht zu erhalten. Parallel dazu gab es Korsetts, die mit Eisenstangen in Form gehalten wurden. Sie waren unglaublich schwer und steif. Und es lässt sich leicht vorstellen, dass die Frauen leichtere und vor allem biegsamere Korsetts freudig begrüßten.

Korsett und Reifrock wurden am spanischen Hof erfunden. Das strenge Zeremoniell hielt Steifheit für das höchste modische Ideal und stilisierte den weiblichen Körper zur artifiziellen Figurine. Eng geschnürte Korsetts formten aus den natürlichen Rundungen geometrische Kegelformen und ließen jegliche Erinnerung an einen menschlichen Körper verschwinden. Schmale, kegelförmige Reifröcke aus Fischbein, Leinen und Rosshaar verbargen die Beine und betonten mit ihrer Weite die Enge der geschnürten Taille. Spröde Leblosigkeit war das Ergebnis, und Schwarz als dominierende Farbe betonte den düsteren Effekt.

Über Jahrhunderte hielt der spanische Hof an diesen Formen fest. Von dort gelangten Reifrock und Korsett nach Frankreich und England. Nur die Italienerinnen zeigten sich nicht interessiert. Es war aber dann doch eine der Ihren, die als Königin am französischen Hof Korsett und Reifrock durchsetzte. Katharina von Medici verordnete ihren Hofdamen eine maximale Taille von 33 Zentimeter Umfang, was nur durch unnachsichtige Schnürung und stärkste Korsetts zu erreichen war. Das Maß blieb über Jahrhunderte modisches Ideal. In England war es Elizabeth I., die „Virgin Queen“, die der spanischen Mode zum Durchbruch und sich selbst mit Korsett und Reifrock zu einem übernatürlichen Äußeren verhalf.

In der Mitte des 16. Jahrhunderts hatte sich das Fischbeinkorsett durchgesetzt, und in diese Zeit fielen auch Beginn und erste Blüte des kommerziellen Walfangs. Bisher hatten allein baskische Walfänger Barten gewonnen und auf den europäischen Märkten verkauft. Ihre Fangexpeditionen hatten nicht nur in der Biskaya, sondern auch in den Gewässern um Spitzbergen die Walherden gefährlich stark dezimiert. Der Grönlandwal war dort ein erstes Mal vom Aussterben bedroht. Bald machten die britischen Schiffe den Basken das Nordmeer streitig. Sie waren auf der Suche nach einer Indienpassage auf riesige Walherden gestoßen und begannen, sie zu jagen.


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mare No. 34

No. 34Oktober / November 2002

Von Hansjörg Gadient

Hansjörg Gadient, Jahrgang 1962, lebt als freier Autor in Zürich. In mare No. 33 ist seine Reportage über das Kinderkrankenschiff in New York zu lesen.

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Vita Hansjörg Gadient, Jahrgang 1962, lebt als freier Autor in Zürich. In mare No. 33 ist seine Reportage über das Kinderkrankenschiff in New York zu lesen.
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Vita Hansjörg Gadient, Jahrgang 1962, lebt als freier Autor in Zürich. In mare No. 33 ist seine Reportage über das Kinderkrankenschiff in New York zu lesen.
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