Schildkröten

Fundstücke aus Kunst und Literatur

„Searching for Utopia“ nennt der flämische Multimediakünstler, Opernregisseur und Bildhauer Jan Faber seine Skulptur, eine 5,5 Tonnen schwere und sieben Meter lange Schildkröte aus Kupfer. Auf ihr reitet, dem Meer entgegenblickend, ein Mann. Nicht irgendein Mann, es ist das Abbild des 1952 geborenen Künstlers selbst. Tennessee Williams’ (1911–1983) Einakter „Plötzlich letzten Sommer“ ist ein wildes Stück, das nicht zuletzt von seinen schauerlichen tierischen Tönen lebt, die das Bühnenbild beleben. Sebastian, Sohn einer tyrannischen Mutter, erlebt seinen eigenen Tod vorweg, indem er beobachtet, wie Raubvögel frisch geschlüpfte Schildkröten zerfetzen. Er selbst wird später von Knaben am Strand, die über ihn herfallen, ebenso brutal zerpflückt. Während beim Künstler Faber die Schildkröte als Symbol für die Freiheit des Menschen auf der Suche nach seiner Utopie – vielleicht in der Tiefe des Meeres – steht, ist sie beim Dichter Williams Synonym für hilfloses Dasein und Ausgeliefertsein gegenüber den Gesetzen einer brutalen Natur. Unterschiedlicher könnte die Interpretation eines Gegenstands im Werk zweier Künstler kaum sein. zdb

mare No. 41

No. 41Dezember 2003 / Januar 2004

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