Schiffsmeldungen

Auf Spurensuche in Neufundland. Eine Fotoreportage über den Roman der amerikanischen Bestseller-Autorin E. Annie Proulx

1993 erschien im Münchner List-Verlag der zweite Roman einer zuvor wenig bekannten Autorin: „Schiffsmeldungen“ heißt das Buch, für welches die Amerikanerin E. Annie Proulx im darauffolgenden Jahr den Pulitzer-Preis erhielt. Die Presse war voll des Lobes, eine amerikanische Tageszeitung schrieb treffend und unvergesslich: „...und hie und da ein Satz, bei dem einem schier der Atem stockt...“

mare ergänzt die nachfotografierten Schauplätze durch Originalzitate aus dem Roman.

Die Geschichte handelt, nüchtern gesagt, von einem Gescheiterten, der doch noch so etwas wie Glück kennenlernt. Quoyle ist ungelenk, dick und voller Unsicherheit. Gerade Witwer geworden, zwei kleine Töchter aus dieser unglücklichen Ehe zu versorgen, in einem schlechten Job irgendwo in einer Kleinstadt im Staat New York gefangen und sowieso traumatisiert durch eine schreckliche Kindheit – eine rundum desolate Lebenslage. Abhilfe verschafft da die umtriebige Tante, die Quoyle überredet, mit ihr, den Kindern Sunshine und Bunny und der Hündin Warren ins Land ihrer Vorfahren zu ziehen: Neufundland.

Ein altes Haus, seit mehr als zwanzig Jahren leerstehend, wartet auf die Familie. Quoyle muss umdenken, muss sich gewöhnen an die Kälte, an die Mentalität der Menschen im Norden, muss ein Boot navigieren lernen und, nicht zuletzt, einen Job suchen. Arbeit findet er denn auch bald – und was für welche: Er wird Reporter beim „Gammy Bird“, einem auf Familientragödien und Verkehrsunfälle spezialisierten Lokalblättchen, welches auch nicht davor zurückschreckt, die Verkehrsunfälle – denn die Zusammenstöße mit Elchen sind meist das Aufregendste, was passiert in der Gegend – notfalls zu erfinden. Quoyle, zuständig auch für die „Schiffsmeldungen“, die Auflistung der im Hafen eingelaufenen Schiffe, gewinnt ein immer tieferes Verständnis für seine neue Heimat, und zum ersten Mal in seinem Leben scheint ihm etwas zu gelingen, was er vorher nicht kannte: Integration.

Zora del Buono


Die Fahrt

Doch der Gedanke an den Norden ergriff von ihm Besitz. Er brauchte etwas, wogegen er sich wappnen konnte.

Einen Monat später fuhren sie in seinem Kombiwagen davon. Im Seitenspiegel warf er einen letzten Blick auf das gemietete Haus, sah die leere Veranda, den Forsythienstrauch, die fleischfarbenen Unterhosen des Nachbarn, die an der Wäscheleine flatterten.

Und so saßen Quoyle und die Tante auf dem Vordersitz, die Kinder hinten und die alte Warren bald zwischen den Koffern, bald kletterte sie unbeholfen nach vorn und setzte sich zwischen Bunny und Sunshine. Aus Servietten bastelten sie ihr Papiermützen, banden ihr den Schal der Tante um den haarigen Hals, fütterten ihr Pommes frites, wenn die Tante nicht aufpaßte.

Über zweitausend Kilometer durch New York, Vermont und schräg nach oben durch die übel zugerichteten Wälder von Maine. Durch Neubraunschweig und Neuschottland auf dreispurigen Autobahnen, Schwierigkeiten auf der mittleren Spur, daß die Tante die Fäuste ballte. In North Sydney öligen Fisch zum Abendessen, und keinen störte es, und am rauhen Morgen die Fähre nach Port-aux Basques. Endlich.


Die Küste

Dieser Ort, dachte sie, dieser Felsen, neuntausend Kilometer dicht eingenebelte Küste. Gesunkene Schiffe unter gekräuseltem Wasser, Boote, die sich durch Meerengen zwischen eisverkrusteten Klippen fädelten. Tundra und Ödland, ein Landstrich voll verkümmerter Fichten, welche die Menschen fällten und wegzerrten.

Seit ihrer Zeit als junges Mädchen war sie nicht mehr in diesen Gewässern gewesen, aber es brandete wieder in ihr hoch, das hypnotische Brodeln des Meeres, der Geruch nach Blut, Wetter und Salz, Fischköpfen, Fichtenholzrauch und stinkenden Achselhöhlen, das Rappeln von Felsen wie Seifenkugeln in fauchenden Wogen, Lummen, der Geschmack von hartem, eingeweichtem und gekochtem Brot, das Schlafzimmer unter der Dachrinne.

Die Bucht sah auf der Karte aus wie ein hellblaues Reagenzglas, in das der Ozean floss. Durch den Flaschenhals fuhren Schiffe in die Bucht ein. An der Ostküste die Siedlung Flour Sack Cove, fünf Kilometer weiter unten die Stadt Killick-Claw und am Flaschenboden entlang haufenweise kleine Buchten. Die Tante wühlte in ihrer großen schwarzen Handtasche nach einer Broschüre. Las laut die Reize von Killick-Claw vor, Zahlen über die staatliche Werft, Fischfabrik, Frachthafen, Restaurants. Einwohner: zweitausend. Unbegrenztes Potential.


Das Boot

Aber in dem Haus könnten sie nicht wohnen, meinte Quoyle, vielleicht noch lange nicht. Sie könnten in dem Haus wohnen, erwiderte die Tante, und die Worte schnappten nach etwas, aber es werde schwierig werden. Ja sogar wenn das Haus wie neu wäre, entgegnete Quoyle, könne er nicht jeden Tag auf dieser Straße hin und her fahren. Der erste Teil der Straße sei verflucht schlimm.

„Beschaff dir ein Boot.“ Die Tante, verträumt, als meine sie einen Schoner für die Handelsschiffahrt. „Mit einem Boot brauchst du keine Straße.“

„Und was ist bei stürmischem Wetter? Im Winter?“ Quoyle hörte seine dämliche Stimme. Er wollte kein Boot, scheute den Gedanken ans Wasser. Schämte sich, daß er nicht schwimmen konnte, es nicht lernen konnte.

„Selten ist der Sturm, in dem ein Neufundländer die Bucht nicht überqueren könnte“, meinte die Tante trocken. „Im Winter mit dem Motorschlitten.“ Ihr Stecken kratzte über den Felsen.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 6. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 6

No. 6Februar / März 1998

Von Vincent Kohlbecher

Vincent Kohlbecher, Jahrgang 1960, lebt als freier Fotograf in Hamburg. In mare No. 11 erschienen seine Aufnahmen des Stockholmer Gourmetschiffs „Blidösund“.

Zora del Buono, geboren 1962, wuchs in Zürich auf und lebt seit 1987 in Berlin. Nach ihrem Architekturstudium an der ETH Zürich arbeitete sie mehrere Jahre als Architektin und Bauleiterin, bevor sie sich zu einem Berufswechsel entschloss und mit dem Schreiben begann. Sie ist Gründungsmitglied der Zeitschrift mare und betreut das Kulturressort.

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Vita Vincent Kohlbecher, Jahrgang 1960, lebt als freier Fotograf in Hamburg. In mare No. 11 erschienen seine Aufnahmen des Stockholmer Gourmetschiffs „Blidösund“.

Zora del Buono, geboren 1962, wuchs in Zürich auf und lebt seit 1987 in Berlin. Nach ihrem Architekturstudium an der ETH Zürich arbeitete sie mehrere Jahre als Architektin und Bauleiterin, bevor sie sich zu einem Berufswechsel entschloss und mit dem Schreiben begann. Sie ist Gründungsmitglied der Zeitschrift mare und betreut das Kulturressort.
Person Von Vincent Kohlbecher
Vita Vincent Kohlbecher, Jahrgang 1960, lebt als freier Fotograf in Hamburg. In mare No. 11 erschienen seine Aufnahmen des Stockholmer Gourmetschiffs „Blidösund“.

Zora del Buono, geboren 1962, wuchs in Zürich auf und lebt seit 1987 in Berlin. Nach ihrem Architekturstudium an der ETH Zürich arbeitete sie mehrere Jahre als Architektin und Bauleiterin, bevor sie sich zu einem Berufswechsel entschloss und mit dem Schreiben begann. Sie ist Gründungsmitglied der Zeitschrift mare und betreut das Kulturressort.
Person Von Vincent Kohlbecher