Sauer macht traurig

Der menschengemachte Kohlendioxidausstoß erhitzt nicht nur die Atmo­sphäre, zu einem Drittel gelangt er auch in die Meere. Ein Experiment im Nordmeer macht klar: Wir müssen handeln

Vermutlich sind sie die grössten Plastik- säcke, die derzeit in den Meeren treiben. 25 Meter tief ragen sie hinab. Zwei Meter breit sind sie, reißfester als dicke Mülltüten und durchscheinend wie Frischhaltefolie. „Mesokosmen“ nennt Ulf Riebesell seine riesigen Kunststoffschläuche, die wohl ungewöhnlichsten Versuchsgeräte, die die Meeresforschung derzeit zu bieten hat. Sie hängen an einem Alugestänge mit quietschorangen Schwimmkörpern. Der Meeresbiologe des Kieler Helmholtz-Zentrums für Ozeanforschung sperrt darin Meerwasser wie in einem Aquarium ein. 55 000 Liter in einer Plastikwurst. Für gewöhnlich verfrachtet man Meeresgetier in Aquarien an Land, um es zu studieren. Mit den Mesokosmen aber kommt das Aquarium zu den Lebewesen ins Meer. Das Experiment ist einzigartig. In der Kunststoffhülle schließen die Forscher das Wasser mitsamt seiner Bewohnerschaft, den Algen, Kleinkrebsen und Fischlarven, für mehrere Wochen ein, um sie vor Ort zu beobachten. „Es ist ein Heidenaufwand, die Geräte mit einem Forschungsschiff aufs Meer zu fahren, mit dem Kran ins Wasser zu setzen und am Grund zu verankern“, sagt Riebesell. Aber sonst würde er nie erfahren, wie es um die Zukunft der Meereslebensräume steht. Denn Algen und Schnecken, Jungdorsche und Korallen sind akut bedroht: durch das Treibhausgas Kohlendioxid.

Lange hatten Wissenschaftler vor allem in die Luft geschaut und untersucht, wie stark Kohlendioxid, kurz: CO², die Atmosphäre aufheizen wird. Vor knapp zehn Jahren dämmerte den ersten Experten, dass sich die Menschheit mit der Verbrennung von Erdöl, Gas und Kohle ein zweites Riesenproblem einhandelt. Kohlendioxid löst sich leicht in Wasser, dabei erzeugt es Kohlensäure. Die Folge: Das Meer versauert langsam, aber sicher. Es schluckt ein Drittel von dem, was aus Auspuffrohren und Schloten in die Atmosphäre quillt. Täglich verschwinden CO²-Massen mit einem Gewicht von rund vier Millionen Mittelklasseautos in den Ozeanen. Zur globalen Erwärmung gesellt sich die Ozeanversauerung – die Meeresforscher sprechen von den „evil twins“, den „bösen Zwillingen“. Was sich in den kommenden Jahrzehnten im Wasser abspielen wird, weiß niemand. Erste Experimente lassen Schlimmes ahnen: Im angesäuerten Meerwasser lösen sich die Gehäuse von Schnecken auf, manche Fischlarven büßen ihren Geruchssinn ein und verlieren die Orientierung. Die Zahl der Publikationen zur Ozeanversauerung ist in den vergangenen fünf Jahren nach oben geschnellt. Dennoch ist das Wissen fragmentarisch. Vielfach hat man nur einzelne Arten im Labor untersucht. Wie die Ökosysteme und die Nahrungsnetze reagieren, in denen Tausende Arten miteinander verwoben sind, ist völlig offen.

Vielleicht helfen die Mesokosmen. Mesokosmos, „Mittelwelt“: Ökologen bezeichnen damit Experimente in Wassertanks, Versuche, die mehr erfassen als der Blick durch die Lupe in die Mikrowelt, aber weniger als die Erforschung der Makrowelt, der Realität draußen. Mit seinen treibenden Schläuchen versucht Riebesell so viel Realität wie möglich einzufangen. Zwar ist das Meerwasser im Schlauch von der Außenwelt abgeschnitten wie der Guppy im Plastikbeutel. Doch das Drumherum stimmt. Das Wasser darin hat dieselbe Temperatur wie das Meer. Und auch die Sonnenstrahlung ist identisch. „Im Labor könnte man die natürlichen Bedingungen nur schwer nachahmen“, sagt Riebesell.

Vor gut einem Jahr reiste er mit den Gestellen zur Arktisinsel Spitzbergen, zur internationalen Forschungsstation in Ny-Ålesund, der nördlichsten ganzjährig bewohnten Siedlung der Welt, gerade einmal 1200 Kilometer vom Nordpol entfernt. Selbst im Sommer ist es dort kalt. Nur für wenige Wochen gibt das Eis das Land um die Station frei. Das Wasser hat um die null Grad.

Die Forscher schleppten ihre Mesokosmen hinaus in den Fjord. Während des Transports waren die Schläuche gerafft. Erst auf dem Meer wurden sie aufgefaltet und in die Tiefe gezogen. Neun Mesokosmen dümpelten schließlich einige hundert Meter vom Ufer entfernt im Wasser, fremdartig wie abgestürzte Raumgefährte. „Wir haben die Mesokosmen mit Kohlendioxid beblubbert und in jedem Schlauch einen anderen pH-Wert eingestellt“, einen anderen Säuregrad, sagt Riebesell. Damit nehmen die Forscher in ihren Mesokosmen die Zukunft vorweg, denn mit Simulationen hat man inzwischen ziemlich genau berechnet, wann verschiedene Meeresgebiete niedrige pH-Werte erreichen und gefährlich versauern werden. Fünf Wochen fuhren die Forscher täglich hinaus in den Fjord. Sie nahmen Proben, bestimmten Sauerstoffgehalt und Nährstoffwerte. Im Labor gaben sie das Wasser in Petrischalen, zählten am Mikroskop die Algen und untersuchten Zooplankter, Larven und Krebschen, auf krankhafte Veränderungen.


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mare No. 95

No. 95Dezember 2012 / Januar 2013

Von Tim Schröder und Nick Cobbing

Als Student wurde der Oldenburger Wissenschaftsjournalist Tim Schröder, Jahrgang 1970, belächelt, weil er den Stoffwechsel im Hautmuskelschlauch des Wattwurms analysierte. Heute tröstet es ihn zu wissen, dass er damit einen kleinen Teil zur Erforschung der Folgen der Ozeanversauerung beigetragen hat.

Der Londoner Nick Cobbing, geboren 1967, untersucht in seiner Fotografie Natur- und Industrielandschaften und ihre Beziehungen zueinander. Seine Arktisbilder wurden weltweit ausgestellt; eines davon erhielt 2011 den World Press Award.

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Vita Als Student wurde der Oldenburger Wissenschaftsjournalist Tim Schröder, Jahrgang 1970, belächelt, weil er den Stoffwechsel im Hautmuskelschlauch des Wattwurms analysierte. Heute tröstet es ihn zu wissen, dass er damit einen kleinen Teil zur Erforschung der Folgen der Ozeanversauerung beigetragen hat.

Der Londoner Nick Cobbing, geboren 1967, untersucht in seiner Fotografie Natur- und Industrielandschaften und ihre Beziehungen zueinander. Seine Arktisbilder wurden weltweit ausgestellt; eines davon erhielt 2011 den World Press Award.
Person Von Tim Schröder und Nick Cobbing
Vita Als Student wurde der Oldenburger Wissenschaftsjournalist Tim Schröder, Jahrgang 1970, belächelt, weil er den Stoffwechsel im Hautmuskelschlauch des Wattwurms analysierte. Heute tröstet es ihn zu wissen, dass er damit einen kleinen Teil zur Erforschung der Folgen der Ozeanversauerung beigetragen hat.

Der Londoner Nick Cobbing, geboren 1967, untersucht in seiner Fotografie Natur- und Industrielandschaften und ihre Beziehungen zueinander. Seine Arktisbilder wurden weltweit ausgestellt; eines davon erhielt 2011 den World Press Award.
Person Von Tim Schröder und Nick Cobbing