Ritter ohne Burg

Bei den Helgoländer Hummern will es mit der Fortpflanzung nicht recht klappen – es fehlen geeignete Paarungshöhlen

Hummer-Damen sind sehr anspruchsvoll. Ihr Kerl muss nicht nur von kräftiger Statur sein, sondern außerdem noch eine geräumige Höhle besitzen. Und deswegen hat ein Hummer-Herr vor Helgoland ein Problem. Denn oft ist er ein Ritter ohne Burg.

Das Dilemma des Hummers ist ein Erbe des Zweiten Weltkrieges. Sein Reich, die Unterwasserlandschaft um die rote Insel, würfelten erst die Deutschen durcheinander, als sie den Kriegshafen auf Helgoland bauten. Nach dem Krieg scheiterten die Briten an dem Versuch, die Insel mit fast 5000 Tonnen Sprengstoff zu pulverisieren. Sie haben aber vermutlich weitere Wohnhöhlen der Hummer verschüttet. Das traurige Ergebnis: In der Fortpflanzung gestört, gibt es heute entsprechend wenige Hummer vor Helgoland. Auswandern ist für die imposanten Krebse keine Alternative, denn rund um die fünf Quadratkilometer Felssockel Helgolands besteht der Meeresboden nur aus Schlick. Und den mögen Hummer nicht.

Wenn allerdings eine Höhle vorhanden ist und ein Hummer-Paar sich gefunden hat, geht es zur Sache. So sehr Einzelgängertum, harter Panzer und überdimensionale Waffen unser Bild dieser Krebse geprägt haben – unter der harten Schale steckt ein einfühlsamer Liebhaber, der seine Angebetete beschützt.

Beim Sex herrscht strikte Damenwahl: Sie sucht sich den prächtigsten Kerl aus und folgt ihm zu seinem Liebesnest. Er dagegen ist zunächst durch die Belagerung seiner Höhle irritiert. Doch das Weibchen lässt sich nicht vergraulen und auch nicht provozieren. Wenn er schließlich begriffen hat, worum es geht, gehen beide eine Wohngemeinschaft auf Zeit ein.

Eine knappe Woche nach den ersten Avancen des Weibchens vollzieht sich ein besonderes Schauspiel: Es „schlägt ihn zum Ritter“. Jelle Atema, Direktor des Boston University Marine Program in den USA und ein echter Hummer-Kenner, hat den Vorgang so getauft. Das Weibchen legt seine Scheren dabei für einen Moment auf den Kopf des Männchens. Es hält still, und der Bund ist besiegelt.

Kurze Zeit später legt die Hummer-Frau einen rituellen Striptease hin: Sie häutet sich und kämpft im Bau mit ihrem alten Panzer. Er bewacht den Eingang. Eine halbe Stunde, nachdem das Weibchen sein altes Kleid abgelegt hat, startet er die ersten Annäherungsversuche. Das Weibchen ziert sich noch, aber kurze Zeit später darf das Männchen ran. Hummer bevorzugen die Missionarstellung, Bauch an Bauch, und kommen schnell zur Sache: Der Liebesakt dauert vier bis acht Sekunden. Dabei deponiert er Spermienpakete in der Geschlechtsöffnung des Weibchens.

Nun endlich kann das Männchen seine partnerschaftlichen Qualitäten beweisen. Es beschützt das Weibchen vor zudringlichen Fischen und Artgenossen, die ihm mit seinem noch weichen Panzer gefährlich werden können. Auch seine Scheren sind vollkommen nutzlos, da auch dort die feste Hülle abfällt. Das Weibchen verlässt die Wohnhöhle zunächst nur auf kurzen, später auf immer längeren Exkursionen. Schließlich ist sie nur noch tagsüber in der Burg. Zwei Wochen nachdem das Verhältnis begann, beendet sie es und verlässt seine Höhle endgültig.

Zu einem späteren Zeitpunkt produziert das Weibchen je nach Alter 3000 bis 75000 Eier, befruchtet sie mit den Spermien und klebt sie unter seinen Hinterleib. Fortan behütet es seinen Nachwuchs und trägt ihn mit sich herum. Zwischen Kopulation und Schlüpfen der Larven liegen bis zu zwölf Monate. Zu diesem Zeitpunkt endet die Brutpflege, und die Larven treiben ein bis zwei Monate im freien Wasser, bevor sie ein verstecktes Leben am Meeresboden beginnen. Gerade in diesen ersten Lebensmonaten sind sie besonders gefährdet. Klein und wehrlos enden viele von ihnen in Fischmäulern. Aber mit zunehmendem Alter können sie immer sorgloser ihre Verstecke verlassen und sich unter anderem von Fischen, Muscheln und Seeigeln ernähren.

Um ihre stattlichen Größen zu erreichen, müssen sich Hummer regelmäßig häuten. Sie wachsen ihr ganzes Leben und brauchen daher von Zeit zu Zeit einen neuen Schutz, wenn der alte zu eng ist. 20 bis 30 Mal geschieht dies in den ersten sieben Lebensjahren, im Alter seltener.

Die Häutung des festen Panzers aus Chitin und Kalk ist eine gefährliche Angelegenheit. Körperflüssigkeiten gelangen beim Ablösen ins Wasser und locken Fische und andere Hummer an. So eine alte Haut ist ein besonderer Leckerbissen, reich an Nährstoffen. Doch auch der frisch gehäutete Hummer ist in Gefahr. Sehr eng gepackte Hummer in einem Aquarium fressen einen frisch gehäuteten Artgenossen auf, selbst wenn ihre Scheren zusammengeklebt sind. Allein die vergleichsweise filigranen Mundwerkzeuge reichen für die kannibalische Mahlzeit aus.

Wenn sie mit fünf bis sieben Jahren geschlechtsreif sind, muss die Höhle her, damit es neuen Nachwuchs gibt. Ansonsten bleibt als ärgster Feind der Kochtopf. Das gilt allerdings eher für den amerikanischen Hummer als für seine Helgoländer Verwandten. Denn selbst bei einer Delikatessenmahlzeit in einem Fischrestaurant auf Helgoland liegt meist ein Bewohner der nordamerikanischen Atlantikküste auf dem Teller. Auf der roten Insel fangen heute 15 Fischer, allesamt nebenberuflich, nur noch wenige hundert Hummer pro Jahr. Dabei waren es einst 90000 – bevor im und nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Lusthöhlen einstürzten.

mare No. 27

No. 27August / September 2001

Von Joachim Wrage und Klaus Ensikat

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