Riskante Neigungen

Tief unter der Meeresoberfläche ereignen sich die gewaltigsten Bergrutsche der Welt – manchmal unbemerkt, doch manchmal katas­trophal und mit der Energie von vielen Atombomben

Ich stand in der Haustür, als ich auf den Hafen blickte. Ich hatte noch meine Jacke an. Ich rief meinen Vater. ‚Papa, in der Bucht ist kein Wasser! Nur Felsen!‘ Er sagte: ‚Was?‘ Und ich sagte: ‚Schau selbst!‘ Da stand er auf und sah hinaus. Er starrte auf den trockenen Hafen. Dann sahen wir die Welle.“

Mary Walsh aus Lord’s Cove auf Neufundland war 13 Jahre alt, als sie Zeugin einer Naturkatastrophe wurde, die heute als Grand-Banks-Tsunami bekannt ist. Dass sie dem Journalisten Garry Cranford 70 Jahre später überhaupt von ihren Erinnerungen berichten konnte, verdankte sie einer Portion Glück und der Tatsache, dass das Haus ihres Vaters etwas weiter vom Hafen entfernt stand. Etliche ihrer Nachbarn überlebten den Abend des 18. November 1929, an dem das Meer ihre Häuser holte, dagegen nicht.

Auslöser dieser Flutwelle war ein Erdbeben, das gegen fünf Uhr nachmittags das seismisch sonst wenig aktive Ostkanada ordentlich durchgeschüttelt und im Haus der Familie Walsh ein paar Tassen zu Boden hatte gehen lassen. Mit einer Stärke von 7,2 war die Erschütterung jedoch zu gering für einen großen Tsunami. Die eigentliche Katastrophe ereignete sich vielmehr am Rand der Neufundlandbank. Auf einer Breite von fast 250 Kilometern setzten sich dort die über Jahrtausende abgelagerten Sedimente in Bewegung, 200 Kubikkilometer Meeresboden rutschten hinab in die Tiefsee.

Damit stellt die Grand-Banks-Rutschung jeden bekannten Bergrutsch an Land in den Schatten, selbst den Zusammenbruch des Vulkans Mount St. Helens im Nordwesten der USA, bei dem 1980 knapp drei Kubikkilometer Gestein zu Tal gingen. Doch nicht nur im Umfang unterscheiden sich submarine Rutschungen grundlegend von ihren kleinen Verwandten an Land. So kommen sie auch ohne echten Berg aus – die meisten und größten gehen auf Hängen ab, deren Gefälle an Land kaum wahrnehmbar wäre.

Und auch ihr Verlauf folgt eigenen Regeln. Als an jenem schicksalhaften Novembertag im Jahr 1929 die Sedimentplatte von der Größe Sloweniens an Fahrt aufnahm, verwandelte sie sich bald in einen sogenannten Suspensionsstrom, ein turbulentes Gemisch aus Sedimentpartikeln und Wasser. Auf ihrem Weg in die Tiefe zerriss diese Schlammwalze zwölf transatlantische Telegrafenkabel, raste mit über 100 Stundenkilometern knapp westlich am in 4000 Meter Tiefe liegenden Wrack der „Titanic“ vorbei und ergoss sich schließlich 1000 Kilometer weit in eine Tiefsee-Ebene.

Bis dahin wäre die Rutschung aber nur eine Katastrophe für die Bewohner der Tiefsee gewesen. Doch der Sog, den die eiszeitlichen Sedimente beim Sturz in die Tiefe erzeugten, ließ die darüberliegende Wassersäule mehrere Meter absacken und brachte den Nordatlantik zum Schwappen. Das war die Geburt eines Tsunamis, einer riesigen Flutwelle, die sich kreisförmig auf dem Atlantik ausbreitete und kurz darauf mit bis zu acht Meter Höhe auf die Küste Neufundlands traf. Weil die Gegend dünn besiedelt ist, starben dabei glücklicherweise nicht mehr als 27 Menschen.

Tsunamis sind fundamental anders als gewöhnliche, durch die Reibung des Windes über der Meeresoberfläche angetriebene Wellen. Selbst bei den größten windgeborenen Wogen bewegt sich stets nur die oberste Wasserschicht, in der Tiefe bleibt es ruhig. Versetzt jedoch ein Erdbeben oder eine untermeerische Hangrutschung der See einen Schlag, so kommt die gesamte Wassersäule in Bewegung. Der gewaltige Energiestoß pflanzt sich vom Ursprungsort in alle Richtungen fort, wobei seine Geschwindigkeit von der Wassertiefe abhängt: Je tiefer, desto schneller, lautet die Regel für die Geschwindigkeit eines Tsunamis.

In immer flacheren Küstengewässern verlangsamt sich die Front der Welle, während sie weiter hinten, im tieferen Wasser, noch deutlich schneller vorankommt. Die hinteren Wassermassen drücken nach, und die auf hoher See wegen ihrer riesigen Wellenlänge kaum wahrnehmbare Woge verwandelt sich in eine Wand aus Wasser, die den Strand überrollt. Wegen der enormen Wellenlänge ebbt ein Tsunami auch nicht so schnell ab wie eine gewöhnliche Welle. Minutenlang drückt der Wellenberg weitere Wassermassen an Land. Erst wenn das Wellental die Küste erreicht, ziehen sich die Wassermassen wieder in Richtung Meer zurück.


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mare No. 84

No. 84Februar / März 2011

Von Georg Rüschemeyer

Georg Rüschemeyer, Jahrgang 1970, freier Wissenschaftsautor im holländischen Nijmegen, hat Tsunamis zum Glück noch nicht miterlebt. Außer als Kind. Damals liebte er es, in der Badewanne tsunamiartige Wellen zu erzeugen, indem er mit seinem Körper auf und ab rutschte, sehr zum Leidwesen seiner Eltern.

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Vita Georg Rüschemeyer, Jahrgang 1970, freier Wissenschaftsautor im holländischen Nijmegen, hat Tsunamis zum Glück noch nicht miterlebt. Außer als Kind. Damals liebte er es, in der Badewanne tsunamiartige Wellen zu erzeugen, indem er mit seinem Körper auf und ab rutschte, sehr zum Leidwesen seiner Eltern.
Person Von Georg Rüschemeyer
Vita Georg Rüschemeyer, Jahrgang 1970, freier Wissenschaftsautor im holländischen Nijmegen, hat Tsunamis zum Glück noch nicht miterlebt. Außer als Kind. Damals liebte er es, in der Badewanne tsunamiartige Wellen zu erzeugen, indem er mit seinem Körper auf und ab rutschte, sehr zum Leidwesen seiner Eltern.
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