Richard im Wunderland

Die geheimen Archive des Londoner Naturhistorischen Museums bergen zu großen Teilen unerforschte Wunderwelten. Niemand kennt sich darin besser aus als der Meerespaläontologe Richard Fortey

Es gibt viele Führer ins Wunderland. Bei Alice war es ein weißes Kaninchen mit roten Augen. Fast hätte sie das vorbeieilende Tier nicht bemerkt, als sie mit ihrer Schwester am Bach saß, ein Buch ohne Bilder las und sich langweilte. Doch als das Kaninchen eine Uhr aus der Westentasche zog und „Jemine! Jemine!“ schrie, gab es für Alice- kein Halten mehr. Sie jagte dem Tier nach, sprang in das Loch, in dem das Kaninchen verschwunden war, und landete in einem Reich voll eigenartiger Wesen wie der grinsenden Edamer Katze und der Falschen Suppenschildkröte.

Im Natural History Museum in Londons Stadtteil South Kensington ist es Richard Fortey, der ins Wunderland führt. Er hat zwar keinerlei Ähnlichkeit mit einem rotäugigen Kaninchen, wie er aber plötzlich im Gewusel der Museumsbesucher auftaucht, ist kaum weniger überraschend. Denn in der großen Halle, für die sich keine Kathedrale schämen müsste, wimmelt es von Schul- und Kindergartenklassen. Touristen in Shorts oder bunten Saris drängeln sich, um das riesige Diplodocusskelett zu fotografieren.

Zwischen all den lauten und fröhlichen Freizeitmenschen wirkt Fortey wie ein Wesen aus einer anderen Welt. Trotz der Hitze im Museum hat er ein ausgebeultes Sakko an, die Krawatte ist nachlässig gebunden, die grauen Haare trägt er wirr. Keiner kennt das Natural History Museum besser als er. Richard Fortey ist nicht nur einer der berühmtesten Wissenschaftsautoren, sondern verbrachte hier auch Jahrzehnte seines Lebens damit, Trilobiten zu erforschen, jene ulkig aussehenden Meeresbewohner, die lange vor den Dinosauriern die Erde bevölkerten.

Schnellen Schrittes schlägt Fortey den Weg in eine Seitengalerie ein. Versteinerte Ichthyosaurier schwimmen die Wände entlang. Dann, gleich hinter dem Skelett eines ausgestorbenen Riesenfaultiers, das, wie Fortey erzählt, die meisten für einen Dinosaurier halten, bleibt er vor einer Mahagonitür stehen und kramt in seinen Taschen. Jetzt gilt es, sich seiner Führung ebenso entschieden anzuvertrauen, wie Alice das bei dem weißen Kaninchen tat.

Denn Forteys Wunderland, das verborgen hinter den Kulissen des Natural History Museum liegt, hat Fantastisches zu bieten: In monströsen Einmachgläsern schwimmen Pythons, die aussehen, als seien sie die Gedärme eines Giganten, Käferarmeen marschieren zur Heerschau auf, und ein Mondfisch guckt so traurig, dass Fortey seufzen muss: „Ach, Sterblichkeit, das ist also dein trauriges Gesicht.“ Es ist eine Welt mit Irrwegen und vergessenen Orten. Man muss aufpassen: Anders als in Harry Potters Schloss Hogwarts scheinen nicht nur die Treppen ihre Richtung zu ändern. Als Fortey den Bestsellerautor Bill Bryson („Eine kurze Geschichte von fast allem“) durch das Museum führte, öffnete sich eine Fahrstuhltür, und die beiden standen vor einer Backsteinmauer. „Oh“, sagte Fortey, „die war das letzte Mal noch nicht da.“

Bryson nahm es ihm nicht übel. Im Gegenteil. Er revanchierte sich mit einem Lob. „Richard Fortey ist einzigartig unter den Wissenschaftsautoren.“ So prangt es jetzt auf Forteys neuem Buch „Dry Store Room No. 1“. Er erzählt darin, was im wohl bedeutendsten naturhistorischen Museum der Welt unter Ausschluss der Öffentlichkeit geschieht. Fortey, 1946 in London geboren, erfolgreicher Buchautor und Mitglied der Royal Society, hat hier über 35 Jahre als Paläontologe gearbeitet. Da hat er eine Menge über exzentrische Kollegen und ihre Arbeit zu erzählen. Und er plaudert über ganz unerhörte Dinge. „Sex unter Dinosauriern“ titelte die britische Boulevardpresse über sein Buch.

„Früher hatten wir große Schlüssel, auf die jeder Gefängniswärter stolz gewesen wäre“, sagt Fortey, „heute haben wir das.“ Er zeigt eine kleine Plastikkarte, den badge, und hält ihn etwas ungelenk unter das Lesegerät an der Wand. Es piept. Das Licht springt von Rot auf Grün. Fortey lächelt und öffnet die Tür.

Natürlich zieht es ihn zunächst zu den Trilobiten, die er „meine Lieblinge“ nennt. Er war 14, als er in den Klippen von Südwales Schiefer aufschlug und darin die versteinerte Schale eines dieser maritimen Urtiere fand. Dass es Liebe auf den ersten Blick gewesen sein soll, wie Fortey beteuert, ist schwer zu glauben. Hübsch sind Trilobiten wirklich nicht. Sie sind entfernte Vettern der Krebse, stammen aber nicht von ihnen ab und sehen mit ihren Schalen aus wie große Asseln in Darth-Vader-Uniform. Immerhin haben sie gut 300 Millionen Jahre lang die Ozeane bevölkert, bevor sie vor 250 Millionen Jahren ausstarben.

Er öffnet eine Schublade. Es wimmelt darin von eichelgroßen, versteinerten Trilobiten. Fortey nennt sie beim wissenschaftlichen Namen: „Flexicalymene gibt es in Marokko bei Straßenhändlern zu kaufen.“ Oft vergehen Jahre, bis ein Kurator so eine Schublade wieder öffnet. Dabei bestehe die Kollektion doch nur aus 120 000 Trilobiten, sagt Fortey. „Was ist das im Vergleich zu den 28 Millionen Insekten in der Entomologieabteilung?“

Fortey hat in seinem Forscherleben mehr als 150 neue Trilobitenarten entdeckt und wissenschaftlich beschrieben. „Einen außergewöhnlich attraktiven Trilo-bi-ten benannte ich nach meiner Frau: Parapilekia jacquelinae.“ Seinen Lieblingen hat er sogar ein populärwissenschaftliches Buch gewidmet, das im englischen Original „Trilobites!“ heißt. „Das Ausrufezeichen ist wichtig“, sagt Fortey, „das ist meine Rache an den Dinosauriern.“ Es stört ihn nämlich gewaltig, dass sich alle nur für Tyrannosaurus und Co. begeistern.

Auch hier in South Kensington sind Dinos die Stars. Es gibt einen vollständig animierten T. Rex, der ist über drei Meter groß, bewegt sich dramatisch und – „rooaaah“ – brüllt gefährlich. Die Saurierausstellung nimmt fast einen kompletten Flügel des Museums ein, alle Besucher wollen dahin. Die Trilobiten hingegen tummeln sich irgendwo in kleinen Vitrinen. Kaum ein Besucher bleibt stehen.


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mare No. 71

No. 71Dezember 2008 / Januar 2009

Von Kai Michel, Matthew Hawkins und Gautier Deblonde

Kai Michel, Jahrgang 1967, Autor aus Zürich, hatte ein schlechtes Gewissen, als er im Museumsshop seinen Kindern das Buch Tyrannosaurus Klecks kaufte. Aber über diesen kleinen Entenschnabeldino, der jagen doof und Fleisch eklig findet, hätte wohl auch Fortey lachen müssen.

Der Londoner Fotograf Matthew Hawkins, 43, plauderte nach dem Shooting noch eine Weile mit Fortey – nicht über Trilobiten, sondern über Musik. „Das hat richtig Spaß gemacht“, sagt Hawkins.

Der in London lebende französische Fotograf Gautier Deblonde, Jahrgang 1969, gewann mit seinen Bildern mehrere Preise, darunter den World Press Award. Deblonde arbeitet für die Agentur NB Pictures.

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Vita Kai Michel, Jahrgang 1967, Autor aus Zürich, hatte ein schlechtes Gewissen, als er im Museumsshop seinen Kindern das Buch Tyrannosaurus Klecks kaufte. Aber über diesen kleinen Entenschnabeldino, der jagen doof und Fleisch eklig findet, hätte wohl auch Fortey lachen müssen.

Der Londoner Fotograf Matthew Hawkins, 43, plauderte nach dem Shooting noch eine Weile mit Fortey – nicht über Trilobiten, sondern über Musik. „Das hat richtig Spaß gemacht“, sagt Hawkins.

Der in London lebende französische Fotograf Gautier Deblonde, Jahrgang 1969, gewann mit seinen Bildern mehrere Preise, darunter den World Press Award. Deblonde arbeitet für die Agentur NB Pictures.
Person Von Kai Michel, Matthew Hawkins und Gautier Deblonde
Vita Kai Michel, Jahrgang 1967, Autor aus Zürich, hatte ein schlechtes Gewissen, als er im Museumsshop seinen Kindern das Buch Tyrannosaurus Klecks kaufte. Aber über diesen kleinen Entenschnabeldino, der jagen doof und Fleisch eklig findet, hätte wohl auch Fortey lachen müssen.

Der Londoner Fotograf Matthew Hawkins, 43, plauderte nach dem Shooting noch eine Weile mit Fortey – nicht über Trilobiten, sondern über Musik. „Das hat richtig Spaß gemacht“, sagt Hawkins.

Der in London lebende französische Fotograf Gautier Deblonde, Jahrgang 1969, gewann mit seinen Bildern mehrere Preise, darunter den World Press Award. Deblonde arbeitet für die Agentur NB Pictures.
Person Von Kai Michel, Matthew Hawkins und Gautier Deblonde