Retten tut not

Ein Schiff ist nicht der Ort, Asyl- und Visafragen zu klären. Die Rettungspflicht der Seefahrt gilt auch bei illegalen Migranten

Es gibt Seefahrten, die sind alles andere als schön und schon gar nicht lustig, sondern das krasse Gegenteil davon. Sie sind das reine Elend, und dass sie überhaupt stattfinden, wirft ein denkbar schlechtes Licht auf jene Gegenden, wo sie beginnen, und nicht immer ein gutes auf die Orte, wo sie enden.

Immer wieder geschieht es, dass zwei Welten auf hoher See aufeinandertreffen – die eine, in der nur akute, nackte Not herrscht, und die andere, die diese zumindest lindern kann, indem sie unverzüglich Hilfe leistet. Doch diese Hilfe bleibt nicht selten aus oder kommt zu spät. Was sich seit Jahren draußen auf den Gewässern zwischen Europa und seinem südlichen Nachbarkontinent abspielt, ist ein düsteres Kapitel der jüngsten Geschichte.

Einst nannte man sie Boatpeople, was fast einen barmherzig-wohlwollenden Beiklang hat. Das war zu einer Zeit, als es vielen darum ging, vor den Schrecken des Vietnamkriegs zu fliehen. Für die, die heutzutage ihre trostlose Heimat verlassen und ihr Leben riskieren, weil sie menschenwürdig leben möchten, hat man nicht einmal mehr einen Namen. Sie scheinen zu einer anonymen Masse Entrechteter und Gedemütigter geworden zu sein. Sie klopfen um Hilfe an, doch wer will sie schon haben? „Wirtschaftsflüchtlinge“ und „Scheinasylanten“ mögen doch bitte dort bleiben, wo sie sind, weil Europa genug eigene Sorgen hat.

Die mit Menschen überladenen Boote sieht man schon lange nicht mehr nur in Südostasien. Heute kommen die Flüchtlinge vor allem aus Afrika, aber auch aus dem Nahen Osten. Sie sind auf der Flucht vor Verfolgung, bewaffneten Konflikten oder einfach nur Hunger, und sie wollen unbedingt nach Europa gelangen – mit allen Mitteln und oft genug in dubioser Gesellschaft, im Schlepp von Schmugglern und Schleusern. Und immer wieder fahren sie mit Booten, die kaum diesen Namen verdienen, mit baufälligen, kippeligen Kähnen, die zu irgendetwas taugen mögen, nur nicht zum Transport vieler Menschen übers offene Meer.

Meist starten sie von Nordafrika aus, um Spanien, Malta oder Italien zu erreichen. Eine kürzere Route übers Mittelmeer führt von Albanien nach Italien. Oft ist es der direkte Weg in den Tod, denn viele schaffen es nicht bis ans rettende Land. Das Meer vor Sizilien ist zu einem Massengrab für Migranten geworden. Man vermutet, dass in den vergangenen 20 Jahren mehr als 10 000 Bootsflüchtlinge im Mittelmeer ertrunken sind – auch deswegen, weil zu wenig oder gar nichts getan wird, um sie zu retten.

Ein typischer Fall: Im März 2011 startete von Libyen aus ein Flüchtlingsschiff und trieb wochenlang manövrierunfähig auf hoher See, bis 61 Menschen qualvoll gestorben waren. Die Überlebenden berichteten, ein Flugzeugträger sei an ihrem Boot vorbeigefahren, ohne etwas zu unternehmen. Auch die italienische und die maltesische Küstenwache sollen über das in Seenot geratene Schiff informiert gewesen sein.

Da die EU versucht, die illegale Migration im Mittelmeer zu unterbinden, nehmen afrikanische Bootsflüchtlinge vermehrt längere Wege auf sich: zum Beispiel von Westafrika aus zu den Kanarischen Inseln oder die Route von Boosaaso im Norden Somalias über den Golf von Aden nach Jemen, die von Kriegs- und Armutsflüchtlingen aus Somalia und Äthiopien benutzt wird und als besonders gefährlich gilt. Im Juli 2011 starben fast 200 Menschen bei dem Versuch, über das Rote Meer in den Sudan zu gelangen, weil auf ihrem Schiff ein Feuer ausgebrochen war.

Jedes Mal, wenn so etwas geschieht, ist das auch eine moralische Katastrophe, ein zivilisatorischer Offenbarungseid. Die Wertegemeinschaft, die ihre Maßstäbe und Regeln so gern in aller Welt preist – hier und da auch schon einmal mit kriegerischen Mitteln –, reagiert mit einer seltsamen Tatenlosigkeit, die alle humanen Wertmaßstäbe verhöhnt.

„Wenn es einen höheren Stellenwert genießt, Migranten vom Ankommen abzuhalten, als Leben zu retten, dann läuft etwas auf dramatische Art und Weise falsch“, beklagt Thomas Hammarberg, Menschenrechtsbeauftragter des Europarats. Die Strategie der EU-Staaten, Bootsflüchtlinge abzuschrecken, habe bei alldem nicht einmal Erfolg. „Dies hat die Menschen nicht von ihren Versuchen abgehalten, Europa zu erreichen. Aber es hat ihre Reise gefährlicher gemacht.“

Allein 20 000 Tunesier haben seit Anfang 2011, in der Hoffnung auf ein besseres Leben, den gefährlichen Weg über Lampedusa nach Frankreich auf sich genommen. Die Überfahrten werden teurer, die Boote voller. Und die Zahl der Schiffbrüche, bei denen niemand zu Hilfe eilt, nimmt zu. Schon vor zwei Jahren hatte Hammarberg Malta und Italien aufgefordert, Seepatrouillen zur Rettung von Flüchtlingen einzuführen. Um die Bereitschaft zur Seenotrettung zu erhöhen, hat die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl (siehe Kasten rechts) die Broschüre „Flüchtlinge in Seenot: handeln und helfen“ herausgegeben, die sich vor allem an Skipper und Freizeitkapitäne richtet.

Oft gehen die Opferzahlen in die Hunderte. Doch die Meldungen werden in den Zeitungen meist hinten auf den Seiten für Vermischtes platziert, neben Klatschmeldungen und Wettervorhersage. Der publizistische Wert eines Menschenlebens korreliert bekanntlich mit seiner Herkunft. Dabei rührt das, was sich vor Europas Küsten ereignet, auf elementare Weise an den Standards der westlichen Zivilisation. „Die europäischen Regierungen und Institutionen tragen weit mehr Verantwortung für diese Krise, als sie bislang eingestanden haben“, sagt Menschenrechtler Hammarberg.


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mare No. 90

No. 90Februar / März 2012

Von Benjamin Worthmann

Immer wieder bereist der Berliner Journalist Benjamin Worthmann (Mathias Zschaler), Jahrgang 1947, arme afrikanische Länder und spricht dort mit Menschen, die von einem besseren Leben in Europa träumen. Für fast alle wird dieser Traum niemals in Erfüllung gehen.

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Vita Immer wieder bereist der Berliner Journalist Benjamin Worthmann (Mathias Zschaler), Jahrgang 1947, arme afrikanische Länder und spricht dort mit Menschen, die von einem besseren Leben in Europa träumen. Für fast alle wird dieser Traum niemals in Erfüllung gehen.
Person Von Benjamin Worthmann
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