Requiem auf einen Fisch

Kabeljau, das Gold Neufundlands. Aber ein Goldrausch macht nur wenige reich und raubt die Hoffnung vieler

In der Nacht, in der sie zum Meer kommen, schweigen die Männer. Sie gehen geduckt, breitbeinig, als trauten ihre Füße dem Land nicht. Hände tief in den Taschen. Gesichter unscharf im Schatten von Schirmmützen. Das Dorf dämmert im Licht der Laternen, lautlos wie ein Traum. Die Männer folgen dem Weg hinunter zum Hafen und hören nur ihren Atem.

Unten im Hafen summen die Kühlhäuser, der Geruch toter Fische weht über den Kai. Am Pier zerren die Boote an ihren Tauen. Das Meer wiegt ihre Rümpfe, und die Masten, die zu Kreuzen werden an ihren Spitzen, wanken, wanken, als rüttelten aus der Tiefe die Toten an ihnen.

Die Männer stiefeln über den Kai, klamm von der Kühle der Nacht. Der Pier liegt getaucht in elektrisches Licht, er leuchtet wie eine Bühne, auf der die Männer kurz auftreten und wieder verschwinden. Sie steigen in das erste Boot und lösen die Leinen.

An Deck sind sie Schemen, bewegen sich, als folgten sie einer Choreographie. Hände tanzen im Halbdunkel. Heben Fässer, wickeln Leinen, greifen Hebel. Das Boot zittert und fährt aus dem Hafen. Über der Bucht leuchten die Häuser La Poiles, weiße, schwarzäugige Würfel. Die Männer drehen die Köpfe und betrachten das Dorf. Dann tauchen sie in die Dunkelheit.

Das Meer ist sanft in dieser Nacht. Das Boot nähert sich dem Mund der Bucht, und am Steuer schiebt Raymond Vautier den Schubhebel vor. Er drückt ihn behutsam. Boote sind weiblich in der Sprache der Seemänner, und er besitzt sie noch nicht lange. Sie ist das erste Boot in seinem Leben, das er neu kaufte. Er musste lange warten, bis sie ihm gehörte. Er nannte sie „Awaited Dream“.

Hinter ihm stehen zwei Männer und zwei Dutzend Fässer. David Neil und Alvin Bond fahren mit Ray zur See, so lange sie sich erinnern können. Irgendwann stiegen sie gemeinsam ins Boot, und es war nie wieder anders. Kein Vertrag, nur ein Nicken. Auch in dieser Nacht sind sie gekommen, die Fässer mit Fisch zu füllen. Es ist zwei Uhr, sie liegen gut in der Zeit. Das Meer vergibt den Verspäteten nicht.

Ray beschleunigt das Boot auf neun Knoten, der Schein des Radarmonitors beglänzt sein Gesicht. Die „Awaited Dream“ balanciert auf dem Rücken der Wellen, hebt und senkt sich in ihrem Rhythmus. Dave blickt hinüber zur Küste, wo sein Vater ertrank, damals vor 23 Jahren. Henry Neil war 47, als er unterging mit einem Boot voller Fische. Vor den Männern erhebt sich langsam der Mond aus dem Meer, golden wie eine glühende Boje. „Oh, gonna be beautiful“, sagt Ray und schüttelt den Kopf, als hörte das Meer niemals auf, ihn zu verwundern.

Vier Stunden fährt die „Awaited Dream“ durch die Dunkelheit, dann drosselt Ray den Motor. Er blickt auf den Monitor des Global Positioning System, 47 Grad 29 Minuten Nord, 58 Grad 24 Minuten West. Dave und Alvin schlüpfen in grünes Ölzeug und schieben Gummistulpen über ihre Arme. Dann ziehen sie Handschuhe an und greifen die Messer. Wie primitive Chirurgen stehen sie an Deck, gummiert und glänzend, Klingen in senkrechter Erwartung. Zwischen Himmel und Meer flammt ein blutiger Saum auf.

Ray steuert das Boot auf eine Boje zu, die Stelle, an der sie vor drei Tagen die Leine auslegten. Ray zieht die Boje mit einem Fischhaken an Bord. Er startet die Winde, und surrend holt sie die Leine ein. Dann beugt er sich über die Bordwand und blickt durch sein Spiegelbild in die Tiefe.

Das Meer ist 300 Meter tief an dieser Stelle. An den ersten Haken hängen nur Köder, kopflose Heringe. Ray reißt sie ab und wirft sie ins Meer, mit unbewegter Miene, schweigend. Das Meer hat eine Art, Männern die Worte zu nehmen.

Und dann kommt der erste Fisch aus der Tiefe. Silbern. Glänzend. Großäugig. Es ist ein Kabeljau. „Wurde auch Zeit“, sagt Ray und reißt dem Fisch den Haken aus dem Maul. Dann wirft er ihn herüber zu Dave. Der schnappt ihn mit einer Hand, sticht das Messer in den Bauch und schlitzt den Fisch auf, Blut tropft auf seine Stiefel. Er schneidet die Zunge aus dem Maul, die verwahrt er. Dann reißt er dem Fisch die Eingeweide aus dem Leib und wirft sie ins Meer. Die Möwen schreien und stürzen sich auf sie.


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mare No. 48

No. 48Februar / März 2005

Von Mario Kaiser und Joachim Ladefoged

Mario Kaiser, Jahrgang 1970, fühlte sich selten so schlecht während einer Recherche – er ist nicht seefest. „Ich sah den schönsten Mond meines Lebens“, sagt Kaiser, „und musste mich übergeben.“

Den dänischen Fotografen Joachim Ladefoged, Jahrgang 1970, hat die Kargheit der Landschaft und des Lebens so beeindruckt, dass er das Gefühl hatte, zu sich selbst zu finden. Ladefoged hat unter anderem mehrfach den World Press Photo Award gewonnen.

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Vita Mario Kaiser, Jahrgang 1970, fühlte sich selten so schlecht während einer Recherche – er ist nicht seefest. „Ich sah den schönsten Mond meines Lebens“, sagt Kaiser, „und musste mich übergeben.“

Den dänischen Fotografen Joachim Ladefoged, Jahrgang 1970, hat die Kargheit der Landschaft und des Lebens so beeindruckt, dass er das Gefühl hatte, zu sich selbst zu finden. Ladefoged hat unter anderem mehrfach den World Press Photo Award gewonnen.
Person Von Mario Kaiser und Joachim Ladefoged
Vita Mario Kaiser, Jahrgang 1970, fühlte sich selten so schlecht während einer Recherche – er ist nicht seefest. „Ich sah den schönsten Mond meines Lebens“, sagt Kaiser, „und musste mich übergeben.“

Den dänischen Fotografen Joachim Ladefoged, Jahrgang 1970, hat die Kargheit der Landschaft und des Lebens so beeindruckt, dass er das Gefühl hatte, zu sich selbst zu finden. Ladefoged hat unter anderem mehrfach den World Press Photo Award gewonnen.
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