Quadratur der Kugel

Die Entwicklung der Seekarten war geprägt von der Suche nach den sagenhaften Gewürzinseln

Unvorstellbare Ungeheuer und phantastische Fabelwesen, pustende Putten und andere bizarre Bilder schmückten die alten Seekarten und lösten gleichermaßen Faszination wie Furcht aus. Als hätten die Kartenmaler der beginnenden Neuzeit allesamt beim Altmeister der Horrormalerei, Hieronymus Bosch, studiert.

Doch nicht nur Traumbilder beherrschten in jener Zeit mangels exakter Kenntnis die Weltsicht, sondern auch Willkür. Und Wunschdenken. Dass Christoph Kolumbus von seiner kompletten Mannschaft ein Dokument unterzeichnen ließ, laut dem Kuba eine Halbinsel des asiatischen Festlandes sei, hört sich ungeheuerlich an. Aber wer wollte dies dem Mann verübeln, der zuvor Jahrzehnte stritt mit Würdenträgern, für die die Welt an den Atlantikküsten zu Ende und Bethlehem der Nabel des Universums war; mit allen anderen Weltenteilen schön kreisrund drumherumgruppiert – obwohl der aktuelle Wissensstand bereits weiter war. Selbst für die christliche Seefahrt war dies schließlich wenig hilfreich.

Die Entwicklung der See- und Weltkarten, die Abbildung entferntester Weltengegenden, ging einher nicht nur mit ständig erweiterten geographischen Kenntnissen. Religionen und Denkschulen spielten ebenso eine Rolle wie strategische Interessen der Seemächte, die Suche nach Gewürzen, Gold und Edelsteinen – und ganz offensichtlich auch das Vergessen. Denn lange, lange vor Kolumbus war man schon einmal viel, viel weiter.

Der Disput darüber, ob das ungeheure Vorhaben des Genuesers aussichtsreich sei oder nicht, wäre in der Antike allemal auf höherem Niveau ausgefochten worden. Aristoteles fand im Jahre 350 vor Christus erste Hinweise auf die Kugelgestalt der Erde. Masten von Schiffen, so war ihm aufgefallen, konnte man noch sehen, wenn ihr Rumpf längst hinter dem Horizont verschwunden war. Hundert Jahre später bereits war der Erdumfang nahezu korrekt berechnet – auf denkbar simple Art. Erathostenes, Leiter der Bibliothek in Alexandria, ließ an einem Tag in seiner Heimatstadt und im 800 Kilometer südlicher liegenden Assuan den Höchststand der Sonne messen. Die Differenz: sieben Grad, zwölf Minuten, also ein Fünfzigstel des Vollkreises. Daraus ergab sich für ihn als Gesamtumfang fünfzig mal die Nord-Süd-Differenz beider Städte, gleich 40 000 Kilometer.

Auch die andere große Streitfrage aus dem Zeitalter des Kolumbus, ob nämlich Afrika umschiffbar sei oder nicht, war bereits im sechsten vorchristlichen Jahrhundert beantwortet. Rund 2000 Jahre, bevor das erste portugiesische Schiff das Kap der Guten Hoffnung umrundete, waren die Phönizier einmal um Afrika herumgesegelt und an den „Säulen des Herkules“, also am Felsen von Gibraltar, wieder ins Mittelmeer eingebogen.

Als Herodot dies 450 vor Christus dokumentierte, wies er auf etwas hin, „was ich zwar nicht recht glauben kann“, wie er schrieb, „aber vielleicht ein anderer“: An der Südspitze des neuen Kontinents hätten die Phönizier die Sonne zur Rechten gehabt, also im Norden.

Dunkle Nacht fiel dann im Mittelalter auf die antiken Erleuchtungen der Erdwissenschaft. Doktrinärer christlicher Unglaube vor den wissenschaftlichen Erkenntnissen ließ zwar sehr kunstvolle farbenfrohe Erdkarten entstehen. Doch die darin wiedergegebene herrschende Meinung sagte: Die Erde ist eine Scheibe, die „Ökumene“, also die bewohnte Welt aus Europa, Asien und Afrika, ist kreisrund, und alle Wege führen nach Bethlehem in der Mitte. Ein ähnlicher Stellenwert wurde Mekka im arabischen Weltbild zuteil.

Ein deutlicher Silberstreif am Horizont beendete diese dunkle Ära der Kartographie erst zu Beginn der Neuzeit, im 14. und 15. Jahrhundert. Wiederentdecktes antikes Wissen brachte frischen Wind in die Seefahrt.

Der direkte Anstoß zu mehr Wahrheits- und weniger Glaubenstreue im Kartenzeichnen war zuvor ausgerechnet durch die Kreuzzüge ins gelobte Land gekommen. Die Schiffe von Richard Löwenherz und seinen Gotteskriegern benötigten zuverlässige Pläne zur Navigation, um sie mit den aufkommenden Schiffskompassen abzugleichen. Kartographische Glaubensbekenntnisse waren eher überflüssig. Die Portulankarten entstanden, mit immer konkreteren Angaben der Küstenlinien und Hafenstädte vor allem des Mittelmeers.

Deutliches Charakteristikum, das die Portulankarten von anderen unterscheidbar macht: ein geheimnisvolles Netz aus vielfachen diagonalen Linien (nicht zu verwechseln mit Längen- und Breitengraden). Zumeist sechzehn Knotenpunkte, auf einem Kreis rund um die Karte plaziert, geben die Hauptwindrichtungen wieder. Sie alle sind durch gerade Linien, die „Loxodrome“, querverbunden. So entstehen an mehreren Stellen auf der Karte Windrosen. Anhand der Loxodrome konnten die Schiffsführer die Richtung zu ihrem Ziel aus der Karte ablesen und mit den ihnen bekannten Hauptwinden abgleichen.

Grundlage für das Prinzip dieser Loxodrome lieferten ein altgriechischer Gelehrter, Aristoteles, und sein System der Haupthimmelsrichtungen: Dies waren die Punkte des Sonnenauf- und -untergangs jeweils im Sommer und im Winter, dazu Norden, Süden, Osten und Westen – und dies noch einmal halbiert.

Schon wenig später, gegen Ende des 15. und zu Beginn des 16. Jahrhunderts, trieben entdeckungsfreudige Monarchen der damals führenden Seemacht Portugal ihre Schiffe in Richtung Gewürzinseln um Afrika. Auch die Portulanzeichner bezogen nun weitere Bereiche des Atlantischen und des Indischen Ozeans in ihr Weltbild mit ein. Und längst vergessene Inseln wie die Azoren oder die Kanaren tauchten wieder an den verschwommenen Kartenrändern auf.

Dies war auch die Zeit, da das Weltbild eines anderen Gelehrten der Antike wiederentdeckt wurde: Claudius Ptolemäus, der für die weitere Entdeckungsgeschichte eine große Rolle spielte. Ptolemäus lebte im zweiten Jahrhundert nach Christus in Alexandria, damals Zentrum der griechischen Gelehrtenwelt. Dort war das gesamte Wissen des Altertums über die Erdkugel seinerzeit zusammengetragen. Und das war enorm, vor allem verglichen mit dem Kenntnisstand des christlichen Abendlandes 1000 Jahre später. Ptolemäus war der erste, von dem systematische Gedanken über die Projektion einer Kugeloberfläche auf eine plane Karte bekannt sind.

Von ihm selbst waren keine Karten überliefert. Sein umfangreiches wissenschaftliches Werk war seit dem fünften Jahrhundert völlig vergessen. Erst ein Jahrtausend später, zu Beginn des 15. Jahrhunderts, fand es als einzelne byzantinische Schrift den Weg aus Konstantinopel nach Florenz – und löste dort eine der größten kartographischen Verwerfungen aus. Manche Experten behaupten, dies sei die erste große Entdeckung der entdeckungsfreudigen frühen Neuzeit.

Wenig später fertigte der deutsche Benediktinermönch Nicolaus Germanus, der in Florenz lebte, nach den Angaben des griechischen Geographen eine Weltkarte an: Der erste „Planiglob“ war erschaffen, der einer breiteren Öffentlichkeit die dreidimensionale Erdkugel auf einer Weltkarte anschaulich darstellte.

Heute, da neue Erfindungen und Entdeckungen nahezu in Echtzeit rund um den Globus bekannt sind, fast unvorstellbar: Über ein Jahrtausend nach seinem Tod öffnete Ptolemäus’ Erkenntnis der europäischen Gesellschaft den Horizont. Und dies bis hin zu den unbekannten Herkunftsländern fernöstlicher Seide und Gewürze, die im Abendland längst Gemeingut waren.


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mare No. 2

No. 2Juni / Juli 1997

Von Ulli Kulke

Ulli Kulke, Jahrgang 1952, ist Chefreporter für Wissenschaft der Berliner Tageszeitung Die Welt.

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