Proteus’ wagemutige Nachbarn

So manche Wohngegend ist nicht gewappnet gegen die extremen Kräfte der Natur. Und doch zieht es den Menschen an die Küste

Eine Insel und eine Palme: Schon überlegt der Leser, ob er lieber ein Buch oder einen Angelhaken dabei haben möchte, wenn es ihn dorthin verschlüge. Doch mittlerweile weist das archaische Bild nicht mehr auf die Robinsonade hin, den unfreiwilligen Umzug des Einzelnen an den einsamen Ort, samt winzigem Notgepäck. In Zukunft steht die Vorstellung von Insel und Palme für das Gegenteil da, den massenhaften Umzug der Menschheit mit allem Hab und Gut ans Meer.

In Dubai am Persischen Golf nimmt in diesen Jahren ein Megaprojekt Gestalt an. Künstliche Inseln, jede im Umriss einer Palme angelegt, die zigtausend begüterten und begeisterten Menschen einen neuen Wohnort bieten werden. Mit Palm Deira hat im Dezember 2004 die dritte und ausgedehnteste dieser „Palmen“inseln die Wasseroberfläche erreicht und ist in ihr finales Baustadium eingetreten. Um die „Stamm“insel und die Krone mit den 41 Wedeln in die Gewässer des Golfs zu pflanzen, müssen rund eine Milliarde Kubikmeter Felsen und Sand aus der Wüste herangeschafft werden – die bislang voluminöseste Erdbewegung der Menschheit.

Chef der Entwicklungsgesellschaft Palm Deira ist der Kronprinz von Dubai, Scheich Al Maktoum, als Neubürger am Golf ist jeder willkommen, den es nicht mehr in seinem Inland hält und der sich das neue Domizil leisten kann. Mit 80 Quadratkilometern wird Palm Deira eine größere Grundfläche haben als etwa Paris. 8000 Stadtvillen sind geplant, dazu Hotels, Shopping-Malls, Country-Clubs, Designstrände und Marinas. Selbst Fische und Seevögel finden an dem 41 Kilometer langen Wellenbrecher rings um die Großimmobilie des Scheichs ein neues, viel versprechendes Habitat.

Trotz globalen Marketings werden die meisten Bewohner des frisch erbauten Inselreichs vermutlich aus den arabischen Emiraten selbst stammen. Was bewegt den Zug der Menschen von der Sandwüste in die Wasserwüste? In Palm Deira manifestiert sich geradezu eine Umkehrung aller Werte, die das Wohnen in der Vergangenheit bestimmt haben, und zwar weitgehend unabhängig von den sonstigen klimatischen und kulturellen Eigenheiten der Völker und Regionen.

Der exakte Zeitpunkt für einen Paradigmenbruch lässt sich kaum benennen, doch in etwa ist es der Beginn des 20. Jahrhunderts, mit dem sich der neue säkulare Trend voll herausbildete. Davor wurde das Wohnen am Meer vor allem von negativen Faktoren bestimmt, die umso durchschlagender waren, je näher das Grundstück am Wasser lag. Ebbe und (Sturm-)Flut sind nicht verlässlich kalkulierbar, und hinzu kommt eine weitere Regel im Spiel der Elemente: je näher am Meer, desto stärker die Wucht der Winde, die ein Haus treffen können.

Damit nicht genug, ist auch das Mikroklima am Wasser ohne avancierte Haustechnik wesentlich ungesünder als weiter im Inland. In der Vergangenheit ging es nicht um Wellness am Meer, sondern um ein feuchtkaltes Seeklima, das Lungenentzündungen, Rheuma und Schimmelbildung begünstigte. Und wenn es saisonal richtig warm war, kam die Malaria die Küste hinauf – nicht nur in den Tropen, sondern in heißen Sommern bis in die friesischen Marschlande.

Die alten Griechen, als die Meister der Synthese, haben der problematischen Natur des Meeres und der Meeresnähe einen Gott und damit einen Namen gegeben: Proteus. Sein Wohnsitz war die Insel Pharos, das ufernahe Mittelmeer vor Ägypten, wo er die Seekälber seines Vaters Poseidon hütete. Selbst schon ein alter Mann, ein Meergreis mit wallendem Bart, war er unter den Griechen geschätzt für seine Wahrsagekünste. Freiwillig gab er sein Wissen allerdings nicht preis. Wer ihn bedrängte, dem entzog er sich gern durch mannigfache Verwandlungen, am liebsten in Gestalt einer Welle. Nur ein wahrer Held konnte ihn überlisten.


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mare No. 49

No. 49April / Mai 2005

Ein Essay von Reimer Eilers

Reimer Eilers lebt als Publizist in Hamburg. Er wuchs auf Helgoland auf, wo ihm bei einem Nordweststurm einmal das Dach der Schule davonflog. In seiner Freizeit macht er die Hausverwaltung für eine Immobilie auf Amrum. Im Jahr 2004 wohnte er in der Schutzstation einer Pinguinkolonie an der chilenischen Pazifikküste – zehn Meter von der Flutkante entfernt.

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Vita Reimer Eilers lebt als Publizist in Hamburg. Er wuchs auf Helgoland auf, wo ihm bei einem Nordweststurm einmal das Dach der Schule davonflog. In seiner Freizeit macht er die Hausverwaltung für eine Immobilie auf Amrum. Im Jahr 2004 wohnte er in der Schutzstation einer Pinguinkolonie an der chilenischen Pazifikküste – zehn Meter von der Flutkante entfernt.
Person Ein Essay von Reimer Eilers
Vita Reimer Eilers lebt als Publizist in Hamburg. Er wuchs auf Helgoland auf, wo ihm bei einem Nordweststurm einmal das Dach der Schule davonflog. In seiner Freizeit macht er die Hausverwaltung für eine Immobilie auf Amrum. Im Jahr 2004 wohnte er in der Schutzstation einer Pinguinkolonie an der chilenischen Pazifikküste – zehn Meter von der Flutkante entfernt.
Person Ein Essay von Reimer Eilers