Projektion in Blau

In Curaçao, der Heimat des bekannten Tropenlikörs, ist die Farbe Blau allgegenwärtig. Ein Mosaik

Nachdem Mixer Andy Mc-Elhone an einem trüben Pariser Tag des Jahres 1960 in Harry’s Bar erstmals 2 cl Wodka, 2 cl Zitronensaft und 2 cl Curaçao blue durch das Shakersieb geseiht hatte, frohlockten die Cocktailfreunde auf der Nordhalbkugel. Ein bis heute unübertroffener Klassiker feierte seinen Auftritt: der „Blue Lagoon“. Türkis schwappte die Mini-Lagune im Glas.

Eisig beschlagen und ungläubig bestaunt. Um den Glasrand ließ die Phantasie Palmenwälder wachsen, flirrend in der Sonne. Nur eines raunte die erfrischende Farbe: Senk deine Lippen ins trinkbare Meer! Curaçao blue – Grundstoff für die knalligsten aller Sun-Downer – gehört in jeder Poolbar zum Standard. Spätestens seit unternehmungslustige Mitteleuropäer in den 60er Jahren zu Kreuzfahrten in die Karibik aufbrachen oder nach Hawaii jetteten, ist der blaue Exot zum hochprozentigen Symbol für Tropenträume geworden. Für Paradiese im Ozean.

Curaçao – ein bekannter Name, der nach unbekannter Ferne duftet. Bis auf den heutigen Tag denken die meisten Deutschen bei diesem Wort an Likörflaschen, nicht aber an eine südkaribische Insel fünfmal so groß wie Sylt und rund 50 Kilometer vor der Küste Venezuelas. Wer zum ersten Mal in der Hauptstadt Willemstad, wo die meisten der 170000 Bewohner Curaçaos leben, von seinem Cruise-Liner an Land geht, stutzt über das Spielzeug-Amsterdam. Ein Stückchen Holland, angepflanzt in Äquatornähe.

Die niedlich herausgeputzten Fassaden im Landhausstil sind bestens in Schuss – und das bei 27 Grad Dauertemperatur. Calvinistisch geprägte Disziplin? Nicht ohne Grund hat die Unesco die Kolonialbauten in Ocker, Weinrot, Rosa und akzentvollem Coelinblau zum Weltkulturerbe erklärt.

Aufreizend präsentiert sich gleich an der Hafeneinfahrt das Otrobanda Casino Hotel: in leuchtenden Indigotönen. Spielautomaten drängen wie wartende Gäste in einem Seitengang an der Rezeption. Der überwiegende Teil der jährlich 270000 Touristen betritt die Insel von den Kais her. Fast 300 Kreuzfahrtschiffe nutzen den Schutzhafen außerhalb des Hurrikangürtels als steuergünstige Zapfsäule. Für Tausende ist das Casino Hotel die erste Anlaufstelle zum traditionellen Begrüßungstrunk, dem „Bon Bini“-Drink in „blou“, wie „blau“ im heimischen Kreolendialekt Papiamento heißt.

Vom „Ritz at the Pier“ bis zu den Hafenkneipen im Stadtteil Punda zaubern Barmänner Longdrinks namens „Swimming Pool“ oder „Curaçao Paradise“ auf den Tresen, sobald ein Schiff Neuankömmlinge aussetzt. Wohlig pulsiert dann das eisbonbonfarbene „Warme Willkommen“ durch Hirn und Glieder. Langsam gleitet der sich verschleiernde Blick zur futuristisch geschwungenen Königin-Juliana-Brücke empor. Starker Kontrast zu den blaugetupften Reliefbildern mit ihren Altstadt-Motiven in den Duty-Free-Shops.

Ein verkaufsträchtiges Panorama für naive Malerei. An den verdichteten Curaçao-Miniaturen fällt – mehr als in der Wirklichkeit – auf, wie einzelne Bauten die Farben von Himmel und Meer wiederholen. Aber niemals sind zwei, drei blaue Häuser nebeneinander zu finden, stets bleibt das Gesamtszenario im Auge. Die Menschen hier behaupten zwar, nichts davon zu wissen, doch unbewusst wird komponiert. Die Inselkünstler haben den Wiederklang der Elemente längst erkannt. Blau unterströmt alles, bricht an manchen Stellen vehement durch.

Am radikalsten Blau der Insel zeigt sich das Haus der blauen Seele: „Kas di Alma Blou“. Aus Korallenstein gebaut, steht es auf einem einstigen Riff am Hafen. Es gehört dem niederländischen Blaubesessenen Gunnar Frank. Und provoziert. Das mit Ochsenblut zum Leuchten gebrachte Indigo summt in den Augen. „Die Menschen in der Gegend rebellierten, es gab Unfälle an der Straßenmauer“, sagt Gunnar Frank, der 25 Jahre das Deutsche Mode-Institut in München geleitet hat. Und warum das alles? 1995 rief Frank in einer Vorlesung an der Universität von Willemstad aus: „Wenn Sie Kultur wollen, bekennen Sie Farbe!“ Mit dem Kas di Alma Blou machte er 1996 den Anfang der Indigo-Revolte, andere zogen nach. Frank erhielt haufenweise Gestaltungsaufträge. „Schauen Sie, die Otrobanda-Seite des Hafens steht heute für Indigo, die Punda-Seite für Azur.“ Das ans kaiserliche Purpur gemahnende Indigo ist für den Designer das eigentliche Blau Curaçaos. „Früher, bevor es synthetische Farben gab, hat man die Anwesen in wertvollem Indigoblau gestrichen.“

Der Blick beginnt sich zu polen. Überall blaue Plastik-Mülltonnen, nicht in Nischen versteckt, sondern wie Dekorationsstücke zur Schau gestellt. Oder die blaue Fahne auf der Pontonbrücke zwischen Punda und Otrobanda, die der Brückenwärter vor jedem Öffnen hisst. Selbst das allgegenwärtige Emblem zur 500-Jahr-Feier verwandelt das Schwarz des Fregattvogels in Dunkelblau. Das alles inmitten einer kuriosen Mischung. Einerseits sauber gepflegtes Grachten-Ambiente. Andererseits eine anarchische Sprache ohne festgelegte Grammatik, die wegen des ewigen Sommers nicht einmal einen Begriff für Wetter kennt. Doch wirkt der Himmel nicht stumpfer als auf Kuba oder Martinique? Die Luft weniger feucht und stickig als auf Haiti?


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mare No. 15

No. 15August / September 1999

Von Thomas Worm und Max Lautenschläger

Thomas Worm, Jahrgang 1957, ist mare-Redakteur für Wirtschaft und Politik. Zuletzt schrieb er in mare No. 13 über Methan-Eis aus der Tiefsee.

Max Lautenschläger, geboren 1974, ist freier Fotograf in Berlin. In mare No. 10 erschienen seine Bilder der legendären Hafenstadt Beirut

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Vita Thomas Worm, Jahrgang 1957, ist mare-Redakteur für Wirtschaft und Politik. Zuletzt schrieb er in mare No. 13 über Methan-Eis aus der Tiefsee.

Max Lautenschläger, geboren 1974, ist freier Fotograf in Berlin. In mare No. 10 erschienen seine Bilder der legendären Hafenstadt Beirut
Person Von Thomas Worm und Max Lautenschläger
Vita Thomas Worm, Jahrgang 1957, ist mare-Redakteur für Wirtschaft und Politik. Zuletzt schrieb er in mare No. 13 über Methan-Eis aus der Tiefsee.

Max Lautenschläger, geboren 1974, ist freier Fotograf in Berlin. In mare No. 10 erschienen seine Bilder der legendären Hafenstadt Beirut
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