Politik gegen den Untergang

Ein Brite kämpfte einsam, aber erfolgreich für mehr Sicherheit in der Schifffahrt. Sein Zeichen fährt bis heute über alle Weltmeere

Samuel Plimsoll hat nicht einen Tropfen Salzwasser im Blut. Er ist zwar 1824 im englischen Bristol geboren, aber in Sheffield aufgewachsen. Nach Lehrjahren in einer Anwaltskanzlei und als Buchhalter einer Brauerei macht er im Kohlenhandel ein Vermögen. Es ist die Ära der Industriellen Re-volution, und das Land giert nach Brennstoff. Aber Plimsoll ist auch in zweiter Hinsicht ein Sohn einer Zeit, in der praktischer Verstand regiert. Wo er ein Problem entdeckt, sucht er Lösungen. In unserer Epoche der Ausschüsse und externen Berater , die Verantwortung nur weiterreichen, würde ein Plimsoll verzweifeln. Er nimmt Dinge selbst in die Hand, buchstäblich, und macht sich auch als Erfinder einen Namen. Mit einem Filtersystem für die Brauerei. Einem faltbaren Regenschirm. Wechselgriffen für Werkzeuge. Einem Verfahren, auch noch die Schlacke aus Öfen zu verfeuern.

1864 unternimmt er seine erste Seereise von London nach Redcar im Nordosten und gerät in ein Unwetter. Plimsolls Schiff schafft es, aber vier weitere gehen verloren. Der Kohlenhändler kommt mit einer Welt in Berührung, die es in seinem pragmatischen Kosmos nicht geben darf. Da gehen Schiffe samt Crew und Ladung einfach unter? Als vereinzelter Schlag des Schicksals lässt sich das möglicherweise noch ertragen, aber gleich vier Schiffe?

Vier Jahre später zieht Samuel Plimsoll als Abgeordneter der Liberalen für Derby ins Unterhaus ein, im selben Jahr, als der Untergang der „Utopia“ große Wellen schlägt. Der Frachter war nach Grundberührung leckgeschlagen. Keine große Sache, aber der Hafeninspektor brachte sicherheitshalber eine Markierung an: Nur bis hier beladen! Doch die Eigner scherte das wenig. Als der Frachtraum voll war, lag die „Utopia“ sechs Zoll tiefer, als es die Marke vorsah. Dann kamen als Deckladung weitere 120 Tonnen Koks an Bord. Der Kapitän protestierte – und wurde gefeuert. Sein Ersatzmann protestierte – und wurde erpresst. Jetzt fahren oder nie wieder ein Schiff bekommen. Er fuhr. Drei Tage später sank die „Utopia“.

Es ist nicht der schlimmste Fall dieser Art – die Crew kann sich retten –, aber ein typischer, und er setzt eine öffentliche Debatte in Gang. England verliere jedes Jahr Hunderte Schiffe, klagt etwa die Royal National Lifeboat Institution. Sie seien nicht seetüchtig und trügen zu schwer an ihrer Fracht. Die Seenotretter schlagen als erste Notmaßnahme eine Lademarke vor. Der Reeder James Hall aus Newcastle schreibt in Fachzeitschriften von Kähnen, die nie auslaufen dürften. Er möchte Inspektionen einführen – vor allem aber eine Freibordmarke, die anzeigt, wie weit der Rumpf aus dem Wasser ragen muss. Und der Chefredakteur des „Sheffield Daily Telegraph“, William Christopher Leng, führt schon seit Jahren einen Kampf gegen die katastrophalen Sicherheitsmängel in der Handelsmarine – auch er plädiert für die Lademarke. Samuel Plimsoll besucht Leng, er trifft Hall. Dann hat er seine Lebensaufgabe gefunden.

Gleich zu Beginn des Jahres 1870 künden Schlagzeilen von neuen Schiffsunglücken. Die „City of Boston“ sinkt, hoffnungslos überladen, 177 Menschen kommen ums Leben. Dann geht der Kohlendampfer „Sea Queen“ verloren, ebenfalls wegen Übergewichts, 19 Tote. Die Witwen der Seeleute berichten, wie entsetzt ihre Männer über den Zustand des Schiffes waren. Fahren mussten sie trotzdem, denn Seeleute, die einen Kontrakt nicht erfüllten, landeten damals im Gefängnis.

Vor diesem Hintergrund präsentiert der Abgeordnete Plimsoll am 13. April desselben Jahres im Parlament seine Ergänzung des Handelsschifffahrtsgesetzes. Die Forderungen: obligatorische Inspektionen für alle Schiffe, eine Freibordmarke und eine Begrenzung der Versicherungssummen, damit Reeder nicht länger „coffin ships“ auf die Reise schicken, schwimmende Särge, bei denen der Untergang – und die Zahlung der Assekuranz – einkalkuliert ist.

Aber die Kollegen lassen ihn auflaufen. Sein Antrag wird verschoben, vergessen, wieder vorgelegt, vertagt und schließlich ganz verworfen. Das Hohe Haus habe sich mit wichtigeren Dingen zu befassen als mit einem lächerlichen Pinselstrich auf einem Schiffsrumpf, teilt man Plimsoll mit. Die Wahrheit ist natürlich eine, die man auch aus Debatten unserer Zeit nur zu gut kennt: Im Parlament sitzen Interessenvertreter der Schifffahrt. Bei jeder Veränderung, die die Profite schmälern könnte, heulen sie auf. Das Argument, das Plimsolls Gegner schon damals anführen, ist die Standardphrase aller Lobbyisten bis heute, mögen sie gegen Dieselfilter oder die Reduzierung von Emissionen streiten: Ihr ruiniert unsere Chancen im internationalen Wettbewerb!

Die Realität hingegen erzählt Geschichten wie die aus der Bridlington Bay. In der Bucht an der Küste von Yorkshire suchen viele Schiffe bei Sturm Schutz. Am 10. Februar 1871 werden sie von einem Orkan aus der falschen Richtung erwischt und auf den Strand gedrückt. 23 Schiffe gehen zu Bruch, 70 Männer sterben, darunter sechs Seenotretter. „Wenn ein solides Schiff auf den Sand gesetzt wird“, klagt der „Leeds Mercury“ später, „darf es nicht wie ein Kartenhaus zusammenkrachen. Diese Schiffe sind auseinandergefallen wie morsches Holz.“ Der Kommentar im „Penny Illustrated Paper“: „Höchste Zeit für Plimsolls Gesetz“.

Von wegen. Am 22. Februar 1871 scheitert Plimsoll erneut. Doch jetzt schlägt der Parlamentarier eine neue, revolutionäre Taktik ein. Er wendet sich an die Öffentlichkeit. Schreibt ein Buch – „Our Seamen“ – über das Los der Seeleute. Druckt es auf eigene Kosten und verteilt es im Land, 600 000 Mal. Verbündet sich mit den Gewerkschaften und beschwört die Solidarität mit den Malochern auf See. Hält Vorträge. Füttert Zeitungen und Journale mit Fakten – und schafft es auf die Titelseiten. Als Advokat des kleinen Mannes, als Schutzpatron der Seefahrer.


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mare No. 69

No. 69August / September 2008

Von Olaf Kanter

Olaf Kanter, 45, Textchef im Politikressort von Spiegel Online, hat eigene Erfahrungen mit der Freibordmarke bei seinem Segelboot. Seit Jahren kratzt er mühsam Algen und Muscheln vom Wasserpass kratzen – dem Farbstreifen im Übergang von Unterwasser- zu Überwasseranstrich –, weil er zuviel Ausrüstung mitschleppt und das Schiff zu tief im Wasser liegt. Jetzt hat er kapituliert – und die Linie höher gelegt.

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Vita Olaf Kanter, 45, Textchef im Politikressort von Spiegel Online, hat eigene Erfahrungen mit der Freibordmarke bei seinem Segelboot. Seit Jahren kratzt er mühsam Algen und Muscheln vom Wasserpass kratzen – dem Farbstreifen im Übergang von Unterwasser- zu Überwasseranstrich –, weil er zuviel Ausrüstung mitschleppt und das Schiff zu tief im Wasser liegt. Jetzt hat er kapituliert – und die Linie höher gelegt.
Person Von Olaf Kanter
Vita Olaf Kanter, 45, Textchef im Politikressort von Spiegel Online, hat eigene Erfahrungen mit der Freibordmarke bei seinem Segelboot. Seit Jahren kratzt er mühsam Algen und Muscheln vom Wasserpass kratzen – dem Farbstreifen im Übergang von Unterwasser- zu Überwasseranstrich –, weil er zuviel Ausrüstung mitschleppt und das Schiff zu tief im Wasser liegt. Jetzt hat er kapituliert – und die Linie höher gelegt.
Person Von Olaf Kanter