Pol-Position

Die Befahrung der Nordost- und Nordwestpassage entlang der Arktis war lange Seefahrers Traum. Heute ist sie Gegenstand nüchterner Kalkulationen von Reedern und Logistikern

Auf den ersten Blick sieht „Nadeshda“ unspektakulär aus: Ein quietschoranges, etwa 160 Meter langes Schiff, zwei Ladekräne an Deck. Doch glaubt man Michael vom Baur, ist „Nadeshda“ ein fulminantes Vehikel: 15 Meter hohe Eisbarrieren durchbricht sie mühelos. Das liege an ihrer besonderen Konstruktion, denn „Nadeshda“ kenne kein vorne oder hinten, erklärt der Technische Vorstand der Wadan-Werften. Bei schwerem Packeis kann der Kapitän das Schiff einfach um 180 Grad drehen. Dann schiebt „Nadeshda“ ihr Heck auf das Eis, das unter ihrer Last wie Styropor zerbröselt. Der Antrieb hängt in einer drehbaren Gondel unter dem Rumpf. „Das Interesse ist sehr groß“, sagt vom Baur, „mit unserem Antriebskonzept sparen sich Reeder die teure Hilfe von Eisbrechern.“

Das Wettrennen hat begonnen. Ob Werften oder Reeder, sie alle hoffen, vom schmelzenden Arktiseis zu profitieren. Milliardengeschäfte locken in den kalten Welten. Riesige Öl- und Gasvorkommen sollen gefördert werden, das erfordert eine gigantische Infrastruktur. Da will auch die Schifffahrt mitmischen. Sie ist euphorisch; schließlich entdeckt man nicht alle Tage einen neuen Ozean. Es ist ein Vordringen ins Unbekannte, die eisgewaltige Natur gilt es erst zu brechen. Doch die Branche ist optimistisch. In wenigen Jahrzehnten könnte das Nordpolarmeer im Sommer eisfrei sein, eine Folge des Klimawandels.

Einen Vorgeschmack darauf gab es bereits vergangenen Sommer. Erstmals waren die Nordost- und Nordwestpassage für einige Tage gleichzeitig eisfrei. Sofort begannen Reeder zu rechnen, schwärmten von immensen Einsparungen. Je nach Strecke könnten sich die internationalen Schiffsrouten um fast 40 Prozent verkürzen. Wer die Nordwestpassage entlang Grönlands und Kanadas Küsten wählt, um von Rotterdam nach Yokohama in Japan zu fahren, spart im Vergleich zur Strecke durch den Sueskanal rund 7250 Kilometer und obendrein gefährliche Piratengebiete vor Somalia. Wer die Nordostpassage nutzt, ist noch schneller: Der Seeweg von Nowaja Semlja entlang der Küste Sibiriens bis in die Beringstraße ist etwa 8220 Kilometer kürzer als die Sues-Tour.

Die Nordpolarrouten sind ein jahrhundertealter Seefahrertraum. Dem Norweger Roald Amundsen gelang es in den Jahren 1903 bis 1906 als Erstem, die Nordwestpassage in voller Länge zu durchfahren. 100 Jahre später machte sich der deutsche Abenteurer Arved Fuchs erneut auf den legendären Weg. Auf einem umgebauten Fischkutter segelte er 2002 und 2003 beide Passagen. Ein Ausflug in ein so unwirtliches wie wunderschönes Seegebiet: Schneebedeckte Eisfelder türmen sich über Jahre zu bizarren Formen auf, sanfte Eishügel glitzern grell in der Sonne.

Doch so idyllisch die Eiswelten auch aussehen – sie zu durchqueren ist riskant. Nur im Zickzack lässt sich hier ein Weg finden. Ein messerscharfer Eisberg kann leicht den Schiffsrumpf aufschlitzen. Der Druck des Eises auf die Schiffswände ist so stark, dass nur Schiffe mit hoher Eisklasse, besonders verstärkten Hüllen, ihm standhalten. Dreht plötzlich der Wind, kann ein Schiff ins Eis treiben – schlimmstenfalls droht Totalverlust.

Fuchs kehrte von seiner Expedition mit alarmierenden Erkenntnissen zurück. Die Eisschmelze im Nordpolarmeer ist in vollem Gang, Permafrostböden tauen auf. Wo der Abenteurer früher mehrjähriges Eis vorfand, treiben inzwischen bloß noch Schollen. Nach Berechnungen des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung (AWI) in Bremerhaven ist die Eisfläche am Nordpol in den vergangenen 20 Jahren um mehr als zwei Millionen Quadratkilometer geschrumpft, fast das Sechsfache Deutschlands. „Es ist nur eine Frage der Zeit, wann die Reeder die Passagen noch stärker nutzen“, sagt Fuchs.

Bislang ist in der Heimat von Eisbären und Walrossen wenig los. Forschungsschiffe wie die „Polarstern“ des AWI oder das Kreuzfahrtschiff „MS Bremen“ von Hapag-Lloyd ziehen einsam ihres Weges. Gerade die Nordwestpassage, fest in Kanadas Hand, wird kaum befahren, und das wird wohl auch mittelfristig so bleiben. „Die natürlichen Bedingungen sind dort komplizierter als in der Nordostpassage“, erklärt Louwrens Hacquebord, Direktor des Arctic Centre der niederländischen Universität Groningen. „Wegen der vielen Inseln sind die Fahrwasser eng, das Eis staut sich schneller auf.“ Zwar mag die Route südlicher liegen, einfacher haben es Seefahrer aber deshalb dort nicht.

Und so profitiert bislang nur der 1000-Einwohner-Weiler Churchill, selbst ernannte Eisbärenhauptstadt an der kanadischen Hudson Bay, vom Klimawandel. Vor einigen Jahren erstand ein Investor den einzigen Arktishafen des Landes an der östlichen Einfahrt zur Nordwestpassage. Er hatte einen guten Riecher. Denn wegen des tauenden Eises mausert sich Churchill zum perfekten Umschlagplatz für Kanadas Weizen. Geht es nach der Regierung, soll auch das Inuitdorf Nanisivik am nördlichen Zipfel der Baffin-Insel ausgebaut werden. Kanada plant dort den ersten arktischen Tiefseehafen – vor allem, um mit Militärpräsenz regionale Besitzansprüche zu untermauern.


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mare No. 74

No. 74Juni / Juli 2009

Von Marlies Uken und Max Ruf

Marlies Uken, Jahrgang 1977, freie Autorin, war überrascht, wie intensiv manche Staaten am Nordpol planen. Auch Deutschland hielt letzten März eine prunkvolle Arktiskonferenz in Berlin ab. Scherzhaft hieß es dort, man mache sich schließlich Sorgen über die Zukunft eines berühmten Berliners: Eisbär Knut.

Den Trierer Illustrator Max Ruf, geboren 1982, führt seine Arbeit oft in ferne Länder. Seit seiner Beschäftigung mit der Arktis zieht es ihn nun nach Russland.

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Vita Marlies Uken, Jahrgang 1977, freie Autorin, war überrascht, wie intensiv manche Staaten am Nordpol planen. Auch Deutschland hielt letzten März eine prunkvolle Arktiskonferenz in Berlin ab. Scherzhaft hieß es dort, man mache sich schließlich Sorgen über die Zukunft eines berühmten Berliners: Eisbär Knut.

Den Trierer Illustrator Max Ruf, geboren 1982, führt seine Arbeit oft in ferne Länder. Seit seiner Beschäftigung mit der Arktis zieht es ihn nun nach Russland.
Person Von Marlies Uken und Max Ruf
Vita Marlies Uken, Jahrgang 1977, freie Autorin, war überrascht, wie intensiv manche Staaten am Nordpol planen. Auch Deutschland hielt letzten März eine prunkvolle Arktiskonferenz in Berlin ab. Scherzhaft hieß es dort, man mache sich schließlich Sorgen über die Zukunft eines berühmten Berliners: Eisbär Knut.

Den Trierer Illustrator Max Ruf, geboren 1982, führt seine Arbeit oft in ferne Länder. Seit seiner Beschäftigung mit der Arktis zieht es ihn nun nach Russland.
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