Planet der Möwen

Sehnsuchtsvogel oder Ratte der Lüfte: Der Immer- und Allesfresser Möwe spaltet Literaten wie Philosophen

Möwen haben mich mein Leben lang begleitet. Sie kreisten mit scharfem Blick über dem Kinderwagen auf der Sassnitzer Hafenpromenade, und sie schwebten lautlos neben den Fenstern unserer Schule. Sie folgten uns, wenn wir auf die Mole angeln gingen und später unseren Kuttern auf der Jagd nach Hering, Makrele und Kabeljau.

Später, in Berlin, saßen sie lauernd auf dem Geländer der Weidendammer Brücke, wenn wir morgens aus der „Möwe" kamen, dem „Club der Bühnen- und Filmschaffenden", und am Schiffbauerdamm entlang zur Probe trotteten. Sie flogen, höhnisch kreischend, über die Mauer weg zwischen Charité und Reichstag und kümmerten sich einen feuchten Dreck um Todesstreifen und Grenzpatrouillen.

Sie hockten unbeeindruckt auf den Pollern in der Spree, als die Ostberliner am 9. November über Schlagbäume und Brücken in den Westen strömten. Sie trieben sich auf Flughäfen und an Schiffsterminals herum, wenn wir zu Gastspielen oder Festivals fuhren. Als wir müde in Moskau, New York oder Hongkong ankamen, waren sie längst da.

Sie stürzen furchtlos durch Stürme und Hurrikans, während wir hektisch unsere wackligen Strandhütten auf Rügen oder Cape Cod verbarrikadieren. Sie werfen krachend schwere Muscheln auf die Felsen vor Camden oder Port Douglas und jagen geschickt Kaninchen oder Krabben. Sie tauchen auf hoher See aus dem Nichts auf, wenn jemand den Kombüsenabfall ins Wasser kippt, und sie verschwinden ebenso schnell und lärmend, sobald die Fütterung vorbei ist. Kreischend zeigen sie das Auftauchen von Walen oder die Anwesenheit von Haien und größeren Fischschwärmen an. Wo immer ich zum Fischen, Tauchen oder Schreiben auf See gewesen bin, es war im Reich der Möwen. An Land scheinen sie auf etwas zu warten, von dem wir lieber nichts wissen wollen. Auf ihre Wachsamkeit und ihren Hunger ist Verlass. Man findet sie an allen Küsten der Welt, und sie tragen stolze Namen: Elfenbeinmöwe, Eismöwe, Polarmöwe, Silbermöwe und Sturmmöwe.

Dennoch stehen sie in einem schlechten Ruf. Möwen hatten nie viele Freunde - wenn man einmal von Hans Albers oder Richard Bach absieht. Sie gelten Vogelschützern als „Problemvögel", weil sie die Gelege seltener Vogelarten plündern und auch deren Brut nicht verschonen. Man hat sie des Kannibalismus bezichtigt, da sie mitunter sogar ihre Artgenossen töten und fressen. Die Fischer und die Denkmalschützer hassen sie, und auch in der Literatur kommen sie nicht gut weg. Edgar Allan Poe lässt sie gegen Ende seines „Berichts des A. Gordon Pym" als Menschenfresser herbeisegeln, die sich über die Leichen eines antarktischen Totenschiffs hermachen. Kapitän Ahab kündigen sie das Auftauchen von Moby Dick und damit sein Ende und den Untergang der „Pequod" an. Auch bei Defoe, Stevenson und Conrad bedeutet ihr Schrei oft nahendes Unheil. Alfred Hitchcock spielte mit ihrem undurchdringlichen Blick, als er ausgerechnet eine Möwe für den ersten Angriff auf Tippi Hedren in „The Birds" einsetzte. In seinen Gesprächen mit François Truffaut übersetzte er den schweigenden Blick der Möwen mit den Worten: „Wir sind noch nicht ganz so weit, euch anzugreifen, aber wir bereiten uns vor."


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mare No. 53

No. 53Dezember 2005 / Januar 2006

Ein Essay von Holger Teschke

Holger Teschke, Jahrgang 1958, stammt von der Insel Rügen und arbeitet als Autor und Dramaturg in Berlin und Boston. Zusammen mit dem Fotografen Karsten Bartel hat er 2005 den Fotoband Rügen – Jahreszeiten einer Insel im Gustav Kiepenheuer Verlag veröffentlicht. In mare No. 48 stellte er die Fotografin Rosamond Purcell vor

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Vita Holger Teschke, Jahrgang 1958, stammt von der Insel Rügen und arbeitet als Autor und Dramaturg in Berlin und Boston. Zusammen mit dem Fotografen Karsten Bartel hat er 2005 den Fotoband Rügen – Jahreszeiten einer Insel im Gustav Kiepenheuer Verlag veröffentlicht. In mare No. 48 stellte er die Fotografin Rosamond Purcell vor
Person Ein Essay von Holger Teschke
Vita Holger Teschke, Jahrgang 1958, stammt von der Insel Rügen und arbeitet als Autor und Dramaturg in Berlin und Boston. Zusammen mit dem Fotografen Karsten Bartel hat er 2005 den Fotoband Rügen – Jahreszeiten einer Insel im Gustav Kiepenheuer Verlag veröffentlicht. In mare No. 48 stellte er die Fotografin Rosamond Purcell vor
Person Ein Essay von Holger Teschke