Piekfein à la Niçoise

Im „Grand Café“ in Nizza gibt es nichts als Meeresfrüchte. Insbesondere nach Seeigeln steht hier Gourmets Sinn

Handschuhe?“, fragt Jean Philippe verwundert. „Das wäre ja wie mit einem Kondom …!“ Ohne Gefühl also, und das beim Knacken der Schalentiere. Jean Philippe ist Herr der Muschelöffner im „Grand Café de Turin“ in Nizza. Gegen Mittag hat er bereits gut 1400 Austern geöffnet, dazu 40 oder 50 Dutzend Seeigel. Und das also ohne schützende Handschuhe. An fünf Tagen die Woche steht der 35-Jährige seit acht Jahren an der Place Garibaldi, draußen an der Theke vorm Lokal. Seine Kollegin an der Nachbartheke verkauft derweil Krevetten, Krabben oder Muscheln außer Haus. Es herrscht Hochbetrieb. Hausfrauen brauchen noch schnell die Zutaten für das Meeresmahl zu Hause; drinnen am Tresen trinken Handwerker neben gealterten Intellektuellen ihr erstes Glas Wein, warten Stammgäste wie Touristen auf ihre kalten Platten aus dem Meer.

Eine richtige Küche gibt es im „Grand Café de Turin“ nicht, bloß einen alten Zwei-Flammen-Gasherd, um die Muscheln zuzubereiten. Zum typischen „panaché de fruits de mer“ wird Graubrot mit Butter gereicht, als Garnitur dienen Salatblätter und Seetang. Dazu trinkt man gut gekühlten Muscadet oder auch Champagner, als Nachtisch gibt es Camembert. Fisch wird gar nicht angeboten. Wer ins „Grand Café de Turin“ kommt, will kein kompliziertes Menü, sondern Meeresfrüchte pur und frisch. Sehr frisch.

Darum kauft der Besitzer des „Turin“, Christophe Dudoignon, auch nicht auf dem Fischmarkt von Nizza ein. Er hat seine eigenen Zulieferer. Pierre Vallauri etwa, einer von vier Tauchern in der Gegend, die den Stachelhäutern der Meere nachstellen. Trotzdem kommt es manchmal zu Engpässen, vor allem bei den Seeigeln ist die Nachfrage stets größer, als die Fänge hergeben. Vor ein paar Tagen hatte Pierre einen Tauchunfall, nichts Ernstes, aber man kann den „panaché de fruits de mer“ schlecht ohne Seeigel servieren, nicht im „Turin“. Zum Glück sprang ein freier Lieferant für ihn ein.

Vor der historischen Fassade des Lokals tragen Angestellte die Netze aus seinem Lieferwagen hinüber zu Jean Philippe. Schnipp, schnapp macht dessen Schere, wenn er den unteren Teil mit dem Mundwerkzeug des Seeigels abtrennt – dem Gast wird nur die obere Hälfte serviert; sie enthält die köstliche Winzigkeit, fünf zarte Streifen Fleisch, „Zungen“ genannt.

Während sich Jean Philippe durch den Nachschub an Seeigeln arbeitet, setzen sich der Chef und sein Lieferant zusammen. Christophe Dudoignon hat sich als kleiner Junge auf den Austernbänken verdingt, dann zum Lieferanten hochgearbeitet und vor zehn Jahren ins „Turin“ eingekauft. Noch heute ist er alles andere als ein typischer Patron. Wenn Not am Mann ist, stellt er sich neben seine angestellten Muschelöffner und knackt Schalentiere. Pierre Vallauri hat Feierabend. Dafür legt er sehr früh jeden Morgen mit seinem Motorboot im Hafen von Croûton am nahen Cap d’Antibes ab; mit welchem Ziel, verrät er nicht. Hart genug sei der Job auch ohne Konkurrenz in den „eigenen“ Fanggründen. Nur mit Maske und Schnorchel sucht er nach den schwarz schimmernden Seeigeln des Mittelmeers, die in bis zu zehn Meter Tiefe an den Korallen haften. Der Einsatz von Atemgeräten ist verboten, damit die Bestände nicht überfischt werden. Pierre taucht nur kurz, dafür sehr oft und das nur im Winter, denn im Sommer ist Schonzeit. Dann gibt es keine Seeigel im wohl ältesten Lokal für Meeresfrüchte an der ganzen Côte d’Azur.

Die Tradition des Hauses reicht zurück in Zeiten, als Nizza italienisch war und an der Place Garibaldi die Herrschaften vorfuhren – allerdings nicht, um hier zu speisen. Im 17. Jahrhundert war das „Grand Café de Turin“ eine Postkutschenstation. „Damals fraßen hier oben die Pferde“, erzählt Christophe, „während die Kutscher unten im Keller aßen und die feine Gesellschaft durch die Stadt flanierte.“

„Heute“, wirft ein Stammgast vom Nebentisch ein, „kommt sogar einer von den Rolling Stones vorbei, wenn er gerade auf seinem Sommersitz im nahe gelegenen Vence ist.“ Oder Gérard Depardieu, den habe er hier auch schon getroffen. Christophe Dudoignon schweigt dazu. Die Diskretion des Gastronomen.


Seeigel nach Art des
„Grand Café de Turin“

Zutaten
Für eine Person 6 Seeigel, 2 Zitronen.

Zubereitung
Je frischer, desto besser – im Grunde, so Pierre Vallauri, kann man Seeigel auch direkt am Strand verzehren. Manche dünsten sie aber auch vor dem Verzehr in Salzwasser. Hier die pure Variante: Mit einem Tuch den Seeigel in die Hand nehmen; die flache Unterseite mit einer Schere abschneiden und samt den Innereien und Esswerkzeugen wegwerfen. Was in der Oberseite der Schale übrig bleibt, sind die fünf sternförmig angeordneten Eierstöcke, die „Zungen“. Diese vorsichtig mit einem Löffel herauslösen und mit Zitrone beträufelt genießen.


Le Grand Café de Turin 5, Place Garibaldi, Nizza, Frankreich, Telefon +33 493622952, geöffnet täglich von 8 bis 23 Uhr.

 

mare No. 77

No. 77Dezember 2009/ Januar 2010

Von Roland Brockmann und Annette Hauschild

Annette Hauschild, Jahrgang 1969, lebt in Berlin. Sie ist Mitglied der Agentur Ostkreuz.

Roland Brockmann, Jahrgang 1961, lebt in Berlin als unabhängiger Journalist, Fotograf und Video Producer. Bei mare war er an den ersten internationalen Reportagen beteiligt, heute schreibt er dort vor allem Buchrezensionen. 2018 erschien sein erstes eigenes Buch: Real People of East Africa (Photo Edition Berlin).

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Vita Annette Hauschild, Jahrgang 1969, lebt in Berlin. Sie ist Mitglied der Agentur Ostkreuz.

Roland Brockmann, Jahrgang 1961, lebt in Berlin als unabhängiger Journalist, Fotograf und Video Producer. Bei mare war er an den ersten internationalen Reportagen beteiligt, heute schreibt er dort vor allem Buchrezensionen. 2018 erschien sein erstes eigenes Buch: Real People of East Africa (Photo Edition Berlin).
Person Von Roland Brockmann und Annette Hauschild
Vita Annette Hauschild, Jahrgang 1969, lebt in Berlin. Sie ist Mitglied der Agentur Ostkreuz.

Roland Brockmann, Jahrgang 1961, lebt in Berlin als unabhängiger Journalist, Fotograf und Video Producer. Bei mare war er an den ersten internationalen Reportagen beteiligt, heute schreibt er dort vor allem Buchrezensionen. 2018 erschien sein erstes eigenes Buch: Real People of East Africa (Photo Edition Berlin).
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