Pharma-Forscher stechen in See

Die Medizin der Zukunft setzt auf Stoffe aus dem Meer

Der Aktienkurs des Madrider Unternehmens PharmaMar, machte im vergangenen Jahr einen erstaunlichen Satz. Gleich um 300 Prozent legte die Tochterfirma des spanischen Unternehmens Zeltia zu. Dabei hat PharmaMar bisher nur das Versprechen auf einen geschäftlichen Erfolg vorzuweisen, das Versprechen auf ein Medikament, das aus dem Meer stammt. Es enthält einen Wirkstoff namens Ecteinascidin 743, kurz ET 743.

Dieses Stoffwechselprodukt mariner Manteltierchen geht jetzt in die Endphase seiner klinischen Erprobung. „Voraussichtlich 2002 wird unsere neue Arznei in den Apotheken erhältlich sein“, kündigt Zeltia-Manager Inigo Zurita an. ET 743 ist ein Antitumormittel, das den schwer behandelbaren Sarkomen von Patienten mit Bindegewebsgeschwüren zu Leibe rückt. Ein wahrer Wunderstoff: Er soll 200-mal stärker wirken als der bisherige Verkaufsrenner Taxol, ebenfalls ein natürliches Krebsheilmittel, das aus Eibenrinde gewonnen wird. Allein ET 743, schätzen Londoner Investmentbanker, könnte PharmaMar jährlich eine Milliarde Dollar Umsatz bescheren.

Das Potenzial der ozeanischen Flora und Fauna für Medikamente scheint un-ermesslich. Biologen vermuten, dass sich mindestens 10000 Algenarten, mehr als 200000 Tierarten sowie eine unbekannte Zahl von Bakterien und Pilzen in den Weltmeeren tummeln. „Allein auf einem Quadratmeter eines tropischen Korallenriffs sind mehr als 1000 verschiedene Organismen zu finden“, sagt Wirkstoffforscher William Fenical vom Scripps-Institut für Ozeanographie im kalifornischen La Jolla. Und in jedem dieser Organismen könnte der Tablettenstoff für BSE-Infizierte oder Alzheimer-Patienten stecken. Aus der Riesenmenge unterschiedlicher Schwämme zum Beispiel ließen sich bereits 2000 Naturstoffe isolieren, darunter auch Halichondrin B aus dem Schwamm Halichondria okadai, das sich in Zellkulturen als eines der wirksamsten Krebspräparate überhaupt erwies.

Doch bislang vernachlässigten Mediziner die artenreichen Biotope der Ozeane. Von 110000 bekannten Naturstoffen kommen nicht einmal zehn Prozent aus dem Meer. Und bis heute schaffte es – im Gegensatz zu terrestrischen Naturstoffen – noch kein einziges Krebsmittel aus Korallen, Fischen oder Schnecken in die Hospitäler. Warum lassen die Pillen und Ampullen, gefüllt mit Poseidons Rezepturen, so lange auf sich warten?

Abgesehen davon, dass Pflanzen an Land leichter zugänglich sind als etwa Bakterienkulturen am Boden der Tiefsee, kämpft die marine Wirkstoffforschung mit Mengenproblemen. „Für klinische Versuche benötigt man Gramm-Mengen, die normalerweise aus etlichen Tonnen Biomasse hergestellt werden müssen“, sagt Peter Proksch vom Institut für pharmazeutische Biologie der Universität Düsseldorf. Doch eine maritime Plantagenwirtschaft, vergleichbar derjenigen an Land, wo ausreichend Biomasse nachwächst, ist noch nicht Sicht. Angesichts des gewaltigen Bedarfs besteht die Gefahr, ganze Arten auszurotten, will man genügend experimentellen Rohstoff gewinnen. Ganz zu schweigen von den Mengen, die eine kommerzielle Produktion verschlingt.

Dieses Problem beflügelt inzwischen den Forscherdrang. Denn der Schatz in Riffen, Watt und Nordmeer ist zu kostbar, um ihn einfach nur brachliegen zu lassen. „Marine Wirkstoffe sind unverzichtbar, weil sie gegenüber chemischen Verbindungen vom Land völlig unterschiedliche Molekülstrukturen aufweisen“, sagt Pharmazieprofessor Proksch. Gerade bei den Antibiotika sind wegen zunehmender Resistenzen immer wieder andere Wirkstoffe gefragt.

Die Ozeane sind geradezu prädestiniert dafür, diese Nachfrage nach neuen Rezepturen zu decken. Ihre kunterbunten Lebensgemeinschaften zwischen den Korallen oder ihre extremen Habitate in der Tiefsee fordern die organische Fantasie der Natur aufs Äußerste heraus. Die brodelnd heiße, stockdunkle und schwefelhaltige Umgebung unterseeischer Quellen lässt sich für Würmer oder Mikroben nur mit Hilfe eines „ausgekochten“ Stoffwechsels bewältigen. Vergleichbares gilt auch für das gegenteilige Extrem: das Polarmeer. So untersuchen Forscher des Alfred-Wegener-Instituts in Bremerhaven Meereisbakterien, die in der Kälte antibiotisch und antiviral wirkende Substanzen erzeugen.

Auf tropischen Riffen hingegen dominiert die chemische Kampfführung. Unzählige Muscheln, Korallen, Schwämme und Fische behaupten ihre jeweiligen Nischen mit einfallsreichen Biogiften. Dem menschlichen Körper können diese evolutionär geprägten, chemischen „Musterbögen“ unter Umständen als Vorlage für Medikamente dienen. Der tropische Schwamm Cymbastela hooperi zum Beispiel enthält Verbindungen, die Malaria-Erreger hemmen.

Selbst in der Nordsee werden die Pharmazeuten fündig. Als Brackwasserbewohner gedeiht hier etwa der Pilz Stachybotris, dessen organische Verbindungen antibakterielle Eigenschaften aufweisen. Da die Untersuchungen in der Nordsee als aussichtsreich gelten, fördert das Land Niedersachsen das Projekt mit einem eigenen „Forschungsschwerpunkt Meeresbiotechnologie“. Unterdessen kreuzen vor Helgoland Schiffe der Bayer AG und anderer Hersteller. Sie sind auf der Suche nach Meeresbewohnern, aus deren Fermenten sich eines Tages marktgängige Medikamente entwickeln lassen.

Sorgsam beobachten die Global Player unter den Pharmaunternehmen, was sich bei der Wirkstoffsuche tut – ohne dabei immer selbst aktiv zu werden. Meist kooperieren die Konzerne mit regionalen Instituten und Bioprospektor-Firmen. Der deutsch-französische Konzern Aventis, aus Rhône-Poulenc und Hoechst entstanden, erhält seine Substanzen von der australischen Biotech-Firma Amrad, das britische Unternehmen SmithKline Beecham arbeitet mit dem Scripps Oceanographic Institute in Kalifornien zusammen, und der Schweizer Zusammenschluss Novartis (einst Sandoz und Ciba-Geigy) konsultiert das Harbor Branch Institute in Florida.


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mare No. 19

No. 19April / Mai 2000

Von Thomas Worm

Thomas Worm, Jahrgang 1957, lebt als freier Autor in Berlin. Für mare schrieb er zuletzt im Heft 16 über die legendäre Hafenstadt Havanna

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