Petersburger Stintomanie

Anderswo rümpft man die Nase über den Fisch, aber den Peters­burgern gilt er als kostbarer Silberschatz. Korjuschka heißt er hier und ist das Leibgericht der meisten in der Ostseemetropole

Es riecht nach Meer, nach Feuer und nach Gurken. Am Kai spielen Kinder auf einem Panzerkreuzer aus Beton. Mit bunter Kreide malen sie kleine Fische aufs Deck. Fische, wie sie im Mai auf der Wassiljewskiinsel in Sankt Petersburg an jeder Ecke über glühenden Holzkohlen brutzeln und Geschäftsleute, Pensionäre, Arbeiter und Studentinnen schwärmen lassen. „Ich liebe diesen Duft“, schwärmt Juri und bläht seine Nüstern, „den Duft der Korjuschka!“

Korjuschka. Was wie der Kosename für eine Traumfrau klingt, ist die russische Bezeichnung für einen unscheinbaren Fisch, der nach Gurke riecht. In Deutschland heißt er Stint. Manche Fischhändler behaupten, „Stint“ komme von „stinkt“. „Der widrige Geruch, den er verbreitet, wird auch für andere Fische als unan- genehm betrachtet“, heißt es bereits in einem Fischhandbuch aus dem Jahr 1835. Juri hingegen, ein kräftiger, kleiner Mann mit listigen Augen, der vom Wildhüter bis zum Wachmann schon viele Berufe ausgeübt hat, ist ein regelrechter Stintomane – wie so viele Petersburger. „Sind sie nicht wunderbar, unsere Gurkenfische?“

Beim „Korjuschkafestival“ auf der Wassiljewskiinsel drängen sich Jugendliche um aufblasbare Bassins und versuchen, Stinte mit der Hand zu fangen. Männer in Matrosenhemden schmettern Seemannslieder auf einer Bühne. Händler preisen Stintabziehbilder an, bunte Stint-T-Shirts und Zuckerwatte. Es ist Mitte Mai, die große Zeit des kleinen Wanderfischs.

Juri widmet sich seinen beiden Lieblingsbeschäftigungen: Korjuschka essen und darüber dozieren. „Der Stint, Osmerus esperlanus, gehört zur Familie der Lachsartigen“, erklärt er. Stinte leben an der Küste der Nordsee, des Weißen Meeres und der Ostsee. Ab März aber suchen sie in Schwärmen die Mündungen breiter Flüsse auf, um in deren Strömung auf Sand und Kies zu laichen. „Jedes Frühjahr schwimmen sie die Newa nach Sankt Petersburg hinauf“, sagt er, „direkt in unsere Bratpfannen.“ Kenner verzichten auf Messer und Gabel, nehmen die gebratenen Fische in die Hand und essen sie samt Innereien und feinen Gräten. Nur der Kopf wird abgetrennt. „Ich habe schon Stinte gekostet, die waren 35 Zentimeter lang“, schwärmt Juri. Die meisten bringen es gerade auf zehn bis 15 Zentimeter.

Kleiner Fisch, große Tradition: Noch vor gut 100 Jahren waren Stinte in der Nord- und Ostsee so zahlreich, dass Landwirte nicht nur Hühner und Schweine mit diesen Fischen fütterten, sondern auch ihre Felder damit düngten. Im Hamburger Hafen erinnert eine Anhöhe namens Stintfang an die Blüte der Stintfischerei im 19. Jahrhundert. Und Restaurants an Elbe und Weser bieten diesen Fisch mit Bratkartoffeln und Apfelmus noch heute als saisonale Spezialität an. In der nordpolnischen Kleinstadt Mikol´ajki wiederum wird der Stinthengst, „Król Sielaw“, König der Stinte, verehrt, ein Fabelwesen.

Doch wohl nirgends auf der Welt sind Stinte so begehrt wie in Sankt Petersburg. In einer Seitenstraße des Prachtboulevards Newski-Prospekt hat sich an einem Fischstand eine riesige Schlange gebildet. Girlies in hautengen Designerjeans, Omas mit fahlen Gesichtern und reiche Damen mit Perlen im Ohr tauschen sich beim Warten über die besten Rezepte aus. Seit dem Zerfall der Sowjetunion wird der Graben zwischen Arm und Reich immer breiter. Korjuschka aber lieben Menschen aus allen sozialen Schichten. „Erst schmilzt das Eis, dann duftet es überall nach Gurken“, sagt eine ältere Frau mit Kopftuch und streicht liebevoll über einen der Fische in den Holzkisten. „Die Korjuschka ist da, der Winter ist besiegt!“

Swetlana wohnt gleich um die Ecke. Jedes Frühjahr bereitet sie ein großes Stintfestessen zu. „Noch in den 1970er Jahren ließen wir von den Brücken der Newa an Seilen Wäschekörbe hinab und zogen Tausende Stinte aus dem Wasser“, erzählt ihr Mann abends, während die Fische in der Pfanne brutzeln. „Wir brauchten nicht einmal Köder, um sie anzulocken.“ Seit vielen Jahren gehen die Bestände jedoch zurück. Die Preise steigen. Und Wissenschaftler rätseln, warum auch der charakteristische Gurkenduft schwächer wird.

Doch dann der große Moment, der alle Sorgen vergessen lässt: Swetlana stellt Graubrot und Bier auf den Tisch und schüttet die kostbaren Zauberfische in eine Porzellanschale. In dieser Nacht werden sie und ihr Mann wieder fast zwei Kilogramm Stint verputzen.

Stint nach Petersburger Art
Zutaten (für 4 Personen)
2 Dutzend Stinte, 40 g klein gehackten, gut durchwachsenen Speck, 200 g Butterschmalz oder Öl, 4 trockene Brötchen, 2 Zitronen, Salz und Pfeffer; Graubrot, Bier.

Zubereitung
Mit einer Küchenmaschine die Brötchen zu feinem Paniermehl malen. Das Fett in einer großen Pfanne erhitzen und den Speck anbraten. Die Stinte waschen, trocken tupfen und dann panieren; anschließend Salz und Pfeffer darüber streuen und in der Pfanne in heißem Fett schwimmen lassen, bis sie goldgelb gebraten sind. Mit Zitronenschnitzen und Graubrot servieren, dazu ein kühles Bier reichen.

mare No. 96

No. 96Februar / März 2013

Von Till Hein und Gueorgui Pinkhassov

Till Hein, 1969 in Salzburg geboren, ist freier Journalist in Berlin. Er hat in Basel und Wien Geschichte, Germanistik und Russisch studiert. 1996/1997 absolvierte er einen Redaktionslehrgang beim Österreichischen Nachrichtenmagazin Profil in Wien. Von 1999 bis 2001 war er beim SZ-Magazin der Süddeutschen Zeitung in München redaktioneller Mitarbeiter und schrieb nebenbei für die Zürcher Weltwoche. Seit Mai 2002 arbeitet er im Journalistenbüro textetage in Berlin und arbeit unter anderem für die Zeit, Geo und Das Magazin aus Zürich. Zu seinen Themenbereiche gehören: Wissenschaft, Reise, Geschichte, Gesellschaft. Besonders gerne schreibt Till Hein über Geistesgrößen, Skurrilitäten des Alltags, Tiere und ferne Länder. Er spricht Deutsch, Baseldeutsch, Englisch, Französisch, Russisch, schlechtes Wienerisch und Italienisch. Hobbys: Essen, Aikido und Schlafen.

Gueorgui Pinkhassov, 1952 in Moskau geboren, studierte an der dortigen Filmhochschule. Zuerst als Kameramann, später dann als Fotograf am Set arbeitete Pinkhassov für die russischen Mosfilm-Studios. Großen Einfluss auf sein späteres Werk hatten die Filme Andrei Tarkowskis. Nachdem er 1978 in die Moskauer-Künstlervereinigung aufgenommen worden war und frei reisen durfte, konnte er seine Fotos weltweit ausstellen. 1985 zog er nach Paris, seit 1988 ist er Mitglied der Agentur Magnum. Für internationale Magazine und Zeitungen dokumentierte Pinkhassov aktuelles Zeitgeschehen wie die Erdbebenkrise in Armenien oder den Umbruch der Sowjetunion. Mehr noch als in politischen und sozialen Großereignissen sucht er das Monumentale im Kleinen - in Gesten, Gegenständen des Alltags. Seine Entdeckungsreisen beginnen vor der Haustür. Das vertraute Umfeld, das uns umgibt, erscheint bei Pinkhassov fremd und exotisch, weil er es aus neuer Perspektive betrachtet. „Die Welt braucht Selbstbewunderung. Alles, was zählt, ist Neugier.“

Mehr Informationen
Vita Till Hein, 1969 in Salzburg geboren, ist freier Journalist in Berlin. Er hat in Basel und Wien Geschichte, Germanistik und Russisch studiert. 1996/1997 absolvierte er einen Redaktionslehrgang beim Österreichischen Nachrichtenmagazin Profil in Wien. Von 1999 bis 2001 war er beim SZ-Magazin der Süddeutschen Zeitung in München redaktioneller Mitarbeiter und schrieb nebenbei für die Zürcher Weltwoche. Seit Mai 2002 arbeitet er im Journalistenbüro textetage in Berlin und arbeit unter anderem für die Zeit, Geo und Das Magazin aus Zürich. Zu seinen Themenbereiche gehören: Wissenschaft, Reise, Geschichte, Gesellschaft. Besonders gerne schreibt Till Hein über Geistesgrößen, Skurrilitäten des Alltags, Tiere und ferne Länder. Er spricht Deutsch, Baseldeutsch, Englisch, Französisch, Russisch, schlechtes Wienerisch und Italienisch. Hobbys: Essen, Aikido und Schlafen.

Gueorgui Pinkhassov, 1952 in Moskau geboren, studierte an der dortigen Filmhochschule. Zuerst als Kameramann, später dann als Fotograf am Set arbeitete Pinkhassov für die russischen Mosfilm-Studios. Großen Einfluss auf sein späteres Werk hatten die Filme Andrei Tarkowskis. Nachdem er 1978 in die Moskauer-Künstlervereinigung aufgenommen worden war und frei reisen durfte, konnte er seine Fotos weltweit ausstellen. 1985 zog er nach Paris, seit 1988 ist er Mitglied der Agentur Magnum. Für internationale Magazine und Zeitungen dokumentierte Pinkhassov aktuelles Zeitgeschehen wie die Erdbebenkrise in Armenien oder den Umbruch der Sowjetunion. Mehr noch als in politischen und sozialen Großereignissen sucht er das Monumentale im Kleinen - in Gesten, Gegenständen des Alltags. Seine Entdeckungsreisen beginnen vor der Haustür. Das vertraute Umfeld, das uns umgibt, erscheint bei Pinkhassov fremd und exotisch, weil er es aus neuer Perspektive betrachtet. „Die Welt braucht Selbstbewunderung. Alles, was zählt, ist Neugier.“
Person Von Till Hein und Gueorgui Pinkhassov
Vita Till Hein, 1969 in Salzburg geboren, ist freier Journalist in Berlin. Er hat in Basel und Wien Geschichte, Germanistik und Russisch studiert. 1996/1997 absolvierte er einen Redaktionslehrgang beim Österreichischen Nachrichtenmagazin Profil in Wien. Von 1999 bis 2001 war er beim SZ-Magazin der Süddeutschen Zeitung in München redaktioneller Mitarbeiter und schrieb nebenbei für die Zürcher Weltwoche. Seit Mai 2002 arbeitet er im Journalistenbüro textetage in Berlin und arbeit unter anderem für die Zeit, Geo und Das Magazin aus Zürich. Zu seinen Themenbereiche gehören: Wissenschaft, Reise, Geschichte, Gesellschaft. Besonders gerne schreibt Till Hein über Geistesgrößen, Skurrilitäten des Alltags, Tiere und ferne Länder. Er spricht Deutsch, Baseldeutsch, Englisch, Französisch, Russisch, schlechtes Wienerisch und Italienisch. Hobbys: Essen, Aikido und Schlafen.

Gueorgui Pinkhassov, 1952 in Moskau geboren, studierte an der dortigen Filmhochschule. Zuerst als Kameramann, später dann als Fotograf am Set arbeitete Pinkhassov für die russischen Mosfilm-Studios. Großen Einfluss auf sein späteres Werk hatten die Filme Andrei Tarkowskis. Nachdem er 1978 in die Moskauer-Künstlervereinigung aufgenommen worden war und frei reisen durfte, konnte er seine Fotos weltweit ausstellen. 1985 zog er nach Paris, seit 1988 ist er Mitglied der Agentur Magnum. Für internationale Magazine und Zeitungen dokumentierte Pinkhassov aktuelles Zeitgeschehen wie die Erdbebenkrise in Armenien oder den Umbruch der Sowjetunion. Mehr noch als in politischen und sozialen Großereignissen sucht er das Monumentale im Kleinen - in Gesten, Gegenständen des Alltags. Seine Entdeckungsreisen beginnen vor der Haustür. Das vertraute Umfeld, das uns umgibt, erscheint bei Pinkhassov fremd und exotisch, weil er es aus neuer Perspektive betrachtet. „Die Welt braucht Selbstbewunderung. Alles, was zählt, ist Neugier.“
Person Von Till Hein und Gueorgui Pinkhassov