Homer berichtet in der „Odyssee“ von den Schiffen der Phäaken, die „keiner Piloten, nicht des Steuers einmal“, bedürfen; „sie wissen von selbst der Männer Gedanken und Willen“ und finden ohne menschliches Zutun ihren Weg. Odysseus hingegen steuerte „kunstverständig“ sich am Sternenhimmel orientierend sein Floß Richtung Heimat. Erst auf Poseidons Geheiß wurde der Held von Troja auf Irrfahrt geschickt.
Von den Kyberneten, den Steuermännern des antiken Griechenlands bis hin zu den Cybernauten des Cyberspace bewegt sich die abendländische Kultur zwischen Orientierungsverlust und kunstvoller Suche nach dem richtigen Kurs. Heute erleichtern automatisierte Navigations- und Steuerungstechnologien nicht nur auf See, sondern in allen Lebensbereichen zunehmend die Bewältigung dieser Aufgabe. Ob es nun aber ein Segen ist, wenn damit der homerische Traum von autopilotischen Schiffen in Erfüllung geht, ist fraglich. Könnte nicht auch der Albtraum einer zwar technisch perfektionierten, jedoch der Kontrolle der Menschen entfremdeten Steuerung ihres Lebens wirklich werden?
Die ältesten Seefahrer, von denen wir wissen, sind mythische Heroen wie Osiris, Gilgamesch und Herakles, die sich mit ihren Booten nach dem Vorbild der sterbenden und auferstehenden Sonne in die Unterwelt wagen. Die Reise ins ozeanische „Nachtmeergefängnis der Sonne“ ist nicht nur ein Abstieg ins Totenreich; Herakles etwa raubt im fernsten Westen, jenseits der Säulen des Herakles, wie die Felsen zu beiden Seiten der Straße von Gibraltar in der Antike heißen, die goldenen Äpfel der Hera aus dem Garten der Hesperiden, deren Besitz ewige Jugend verleiht.
Aus dem mythischen Zyklus ewiger Wiederkehr, dem auch das Sonnen- und Lebensschiff unterworfen ist, bricht Odysseus aus und mit ihm die abendländische Vernunft. Die Steuermannskunst (kybernetike techne) wird so zum Sinnbild, wie der Mensch das Chaos der Natur durch Vernunft und Technik ordnet. Die Metapher des guten Steuermanns gewinnt dabei nicht nur eine exemplarische Bedeutung für die rechte Steuerung individuellen Lebens, sondern auch für die Lenkung der Gesellschaft und des Staatsschiffs. Platon sieht den menschlichen Geist als „Steuermann der Seele“ und bezeichnet die Kunst der Staatsführung (politike techne) als „Kunst des Steuerns der Menschen“. Cicero überträgt diese Verbindung mit der Gleichsetzung von Herrscher (rector) und Steuermann (gubernator) ins Lateinische, woraus sich unser Begriff des Gouverneurs ableitet.
Das Christentum übernimmt die antike nautische Metaphorik, lädt sie aber mit religiösem Gehalt auf. Es ist nun das „Schiff der Kirche“, das, wie Papst Benedikt XVI. 2011 in Anknüpfung an die alte Symbolik schreibt, den „aufgewühlten Ozean der Zeit“ durchfährt. Zweifelnden Christen verkündet Clemens von Alexandrien tröstend: „Dein Steuermann wird der Logos Gottes sein, und in den Hafen des Himmels wird dich der Heilige Geist einlaufen lassen.“ Innerweltlich gelten hingegen die Säulen des Herakles lange als definitives Ende der Schifffahrt, versehen mit dem Bannspruch „Non plus ultra“, „Bis hier und nicht weiter“.
Für einen Wechsel der Perspektive sorgen schließlich die Seefahrer, die jenseits dieser Grenze eine neue Welt erschließen. Wesentlichen Anteil daran haben die pilotos, die Navigatoren iberischer Schiffe. Bezeichnenderweise wird diese neue Welt nach Americo Vespucci benannt, dem piloto mayor der Spanier. Karl V. erwählt die Überwindung der Säulen des Herakles mit der Devise „Plus ultra“, „Darüber hinaus“, zu seinem Symbol; die Leistungen der Piloten und Kapitäne werden Sinnbild für die weltumspannende Macht des Imperators. Es ist daher kein Zufall, dass Karl V. als „Steuermann der ganzen Welt und des Reiches“ verherrlicht wird und bei seinem Trauerzug in Brüssel ein Staatsschiff seine Regentschaft repräsentiert.
Damit endet aber zugleich die Zeit der klassischen nautischen Metaphorik. Mit der Mechanisierung der Welt verliert das Paradigma der Steuermannskunst an Überzeugungskraft. Bei Thomas Hobbes werden etwa Lebewesen mit Automaten wie der Uhr verglichen und schließlich auch der als „Leviathan“ bezeichnete Staat als „künstlicher Mensch“ gesehen. Die Vorstellung eines mechanischen Staatsapparats verdrängt die Metapher der guten Steuerung des Staatsschiffs.
In der Industriegesellschaft kommen jedoch neben den Automaten auch zunehmend einfache selbst regulierende Mechanismen zum Einsatz, die zu einer überraschenden Wiederkehr des kybernetischen Paradigmas führen. Der Fliehkraftregler der Wattschen Dampfmaschine, der nach dem lateinischen Begriff für Steuermann governor genannt wird, erhält eine exemplarische Bedeutung. Die entstehenden Technologien mechanischer Selbstregulierung verschaffen auch der Idee einer Selbststeuerung der Gesellschaft durch die berühmte „unsichtbare Hand“ des Marktmechanismus Plausibilität.
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Georg Jochum, geboren 1967, ist Soziologe an der Technischen Universität München. Zugleich ist er Mitarbeiter des Deutschen Museums, dessen Schifffahrtsabteilung eine Quelle der Inspiration für die Beschäftigung mit den Steuermännern war. Der Essay enthält Überlegungen aus dem umfangreicheren, gemeinsam mit G. Günter Voß (Technische Universität Chemnitz) verfassten Aufsatz Zur Navigationskunst des mobilen Subjekts.
Vita | Georg Jochum, geboren 1967, ist Soziologe an der Technischen Universität München. Zugleich ist er Mitarbeiter des Deutschen Museums, dessen Schifffahrtsabteilung eine Quelle der Inspiration für die Beschäftigung mit den Steuermännern war. Der Essay enthält Überlegungen aus dem umfangreicheren, gemeinsam mit G. Günter Voß (Technische Universität Chemnitz) verfassten Aufsatz Zur Navigationskunst des mobilen Subjekts. |
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Person | Von Georg Jochum |
Vita | Georg Jochum, geboren 1967, ist Soziologe an der Technischen Universität München. Zugleich ist er Mitarbeiter des Deutschen Museums, dessen Schifffahrtsabteilung eine Quelle der Inspiration für die Beschäftigung mit den Steuermännern war. Der Essay enthält Überlegungen aus dem umfangreicheren, gemeinsam mit G. Günter Voß (Technische Universität Chemnitz) verfassten Aufsatz Zur Navigationskunst des mobilen Subjekts. |
Person | Von Georg Jochum |