Passage in den Tod

Im Mai 1939 schiffen sich in Hamburg 900 Juden auf dem Kreuzfahrtdampfer „St. Louis“ ein – auf der Flucht vor den Nazis. Doch das Exil ihrer Wahl werden sie nie erreichen

Auf dem Kai 76 im Hamburger Hafen stehen Hunderte Juden vor der Gangway. Eilig werden noch Pässe durchblättert, Koffer gequetscht, Kinder gezählt. Wenige Schritte sind es noch bis zur „St. Louis“, da tritt ihnen von oben ein Mann in den Weg, mit schwarzen Lackstiefeln, schwarzen Handschuhen, schwarzem Ledermantel. Er schweigt. Er trägt die Armbinde mit dem Hakenkreuz. Sein Blick gleitet den Laufsteg hinunter, zu den Wartenden. Er lässt sich Zeit. Er hat eine Kamera im Anschlag. Er braucht Bilder der „Köderrasse“, Anschauungsmaterial für die deutsche Öffentlichkeit, wie sie in den „Stürmerkästen“ an Häuserecken aushängen. Bildbeweise, die Deutschland ins Recht setzen, alle Maßnahmen zu seiner Sicherheit zu ergreifen. Joseph Goebbels hat ihn geschickt. Es ist der 13. Mai 1939.

Das Signal ertönt, die Gangway ist freigegeben. Der Mann blickt durch den Sucher. Berthold Meyer kommt ins Bild, im Smoking. Galant untergehakt seine Gattin, im Abendkleid mit Pelz. Erhobenen Hauptes auch Tochter Ilse und Ehemann Kurt Marcus, sie alle tragen die besten Stücke des Breslauer „Bekleidungshauses Berthold Meyer“, das einmal ihnen gehörte. Es folgen die Karliners aus Oberschlesien: Vater Joseph, Mutter Martha, zwei Töchter, zwei Söhne. Der Vater, dunkelhaarig und schnauzbärtig, wie der Führer. Sein zwölfjähriger Sohn Herbert, blond und blauäugig. Schließlich der erfolgreiche Anwalt Dr. Josef Joseph aus Rheydt, kühler Blick, ein Mann der Fakten, doch einer mit Herz: Den anderen Joseph aus Rheydt nahm er bei sich auf, einen angefeindeten, mittellosen Literaten, Goebbels sein Nachname. Das ist 15 Jahre her. Das Leben wiederholt sich nicht. Ihm folgen Gattin Lilly und Tochter Liesl, zehn Jahre alt, blass und zart, das Haar artig nach hinten gekämmt, die Ohren frei, wie es die Partei von Juden auf Passbildern verlangt. Der Propagandafotograf lässt die Kamera sinken – das passt nicht in sein Bild. Das sieht nach dem aus, was es ist. 900 Deutsche verlassen Deutschland.

Es war einmal ihr Heimatland. Aus Oberschlesien kommen die Karliners, aus einem Ort namens Peiskretscham. Tosterstraße Nr. 8, ein kleines, graues Haus. Vorne lag das Geschäft mit dem Gemischtwarenhandel, hinten im Hof, über den Stallungen, die Wohnung. Die Sommer waren leicht und hell. Wind strich das Korn, es roch nach Heu. Die Winter waren dunkel. Auch der weiße Schnee nahm ihnen nichts. In den Stuben brannte Licht. Vater Karliner beugte sich über seine Rechnungsbücher, er handelte mit Pferden, Gurken und Blumen, lieh den Bauern, wenn sie nicht zahlen konnten. Sie beglichen im nächsten Sommer mit Korn. Herbert las die Thora und, wenn der Vater nicht hinsah, Karl May. Herbert im Matrosenanzug, ein Schlawiner. Er bestach den Rabbi der Hebräischen Schule mit Zigarren, dass er ihm gute Noten gab, stahl sich nach nebenan, wenn dort Schweine geschlachtet wurden. Graupenwürste schmeckten herrlich, wenn der Rabbi wüsste, wie.

Die Nazis kamen. Trommelten und marschierten. Das gefiel Herbert. Er wollte schon immer zu den Pfadfindern. Doch dann tropften Inschriften von den Hauswänden. Männer grölten im Wirtshaus, schlugen mit Fäusten auf die Tische. Auf dem Bolzplatz ging es nicht mehr um den Ball. Die Tritte zielten aufs Knie. „Der Hass“, beschwichtigte Vater Karliner, „der vergeht.“

Noch als ein Verwandter nach Dachau musste, glaubte er das. „Er wird wohl arbeiten.“ Als die Familie schließlich von der SS eine Blechbüchse überreicht bekam mit den Worten „Das ist Ihr Mann“, da begriff Joseph Karliner: Ihre Zeit verstrich. Er stellte einen Einwanderungsantrag für die USA und bekam eine Nummer zugeteilt. Jetzt, wo er nicht mehr wollte, musste er warten. Der Zuzug in die USA war über ein Quotensystem geregelt; es gab länderspezifische Kontingente. So durften jedes Jahr 25957 Deutsche einreisen. Es ging der Reihe der Antragstellung nach. Für Juden gab es keine Expressbehandlung, sie galten in Immigrationsfragen als Deutsche wie die „Arier“. Da die Zahl der Anträge die der Plätze weit überstieg, würden die Karliners erst 1942 einreisen dürfen. Bis dahin wollten sie sich ruhig verhalten. Keinen Grund liefern. Doch es gab nichts, was man zu seinem Vorteil tun oder lassen konnte.

Am Morgen nach der „Reichskristallnacht“ war im Laden alles durcheinander, Gurkenfässer umgestoßen, das Schuldnerbuch beschmiert, sie wussten nicht mehr, wer ihnen was schuldete. Vater musste nach Buchenwald. Zwei Monate später wurde er unter der Bedingung freigelassen, Deutschland innerhalb von sechs Monaten zu verlassen und Haus und Hof herzugeben. Danach war er nicht mehr derselbe. Stundenlang starrte er vor sich hin. Manchmal schaute er sie an, als seien sie Fremde. Eigentlich ist Joseph Karliner nie mehr nach Hause gekommen.

Dann erfuhr er von dem Hapag-Schiff, das nach Havanna sollte, und dem kubanischen Konsul, der in Hamburg Einreisegenehmigungen verkaufte. Wie viele Juden der „St. Louis“ sah er Kuba als Transit, als vorübergehendes Asyl, bis ihre Einwanderungsnummer für die USA aufgerufen würde. Und als letzte Chance. Viele Länder hatten ihre Grenzen bereits dichtgemacht, vor allem Bürger des Aggressorstaats wollte man nicht im Land. Für die Nazis waren es Juden, für das Ausland aber Deutsche, „enemy aliens“, feindliche Ausländer.

Die Karliners rüsteten zum Aufbruch. Zehn Reichsmark durften sie ausführen, doch es gab eine „Warenfreigrenze“ im Wert von 1000 Reichsmark. Sie wollten den Deutschen das Geld auf der Bank nicht schenken, sie kauften Bettwäsche, Schrankkoffer – die Aussteuer für die Töchter. Herbert durfte sein Fahrrad und die Briefmarkensammlung mitnehmen. Mit Pferd und Karren ging es zur Eisenbahn. Ein Abenteuer. Er war glücklich. Sein Leben hier war zu Ende. Jetzt beginnt ein neues anderswo.
Dazwischen liegen noch ein Ozean, eine lange Schiffsreise und ein breiter Fotograf.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 56. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 56

No. 56Juni / Juli 2006

Von Dimitri Ladischensky

Dimitri Ladischensky, mare-Redakteur, besuchte Herbert Karliner in Miami, Liesl Loeb in Philadelphia und Ilse Marcus in New York.

Mehr Informationen
Vita Dimitri Ladischensky, mare-Redakteur, besuchte Herbert Karliner in Miami, Liesl Loeb in Philadelphia und Ilse Marcus in New York.
Person Von Dimitri Ladischensky
Vita Dimitri Ladischensky, mare-Redakteur, besuchte Herbert Karliner in Miami, Liesl Loeb in Philadelphia und Ilse Marcus in New York.
Person Von Dimitri Ladischensky