Paradiesische Zustände bei minus 46 Grad

Longyearbyen, Spitzbergens Hauptort inmitten von Eis und Schnee, entwickelt sich rasant. Einwanderer aus aller Welt lassen sich dort nieder. Die Pioniere sind angezogen von dem Aufbruch in der Stadt

Was für eine Stadt. Nicht eine der 40 Kilometer Straßen von Longyearbyen führt in einen anderen Ort. Die nördlichste Kapitale der Welt auf Spitzbergen, dem norwegischen Archipel im Polarmeer, zählt 2210 Einwohner aus 51 Nationen. Sie laufen mit geschultertem Gewehr herum, verbringen ein Drittel des Jahres im Dunkeln bei Temperaturen von bis zu minus 46 Grad und vertrauen einander so, dass sie weder ihre Autos noch Häuser abschließen. 

Kriminalität gibt es keine. Die Polizei hat mit Schneemobilunfällen zu tun, rettet Leute, die vor einem Eisbär aufs Dach geflüchtet sind, oder straft Angeheiterte, die das nächstbeste Auto nehmen zur Heimkehr. In der Stadt macht die Geschichte von einer Frau die Runde, die nachts aufwachte und einen nackten Mann in ihrem Bett fand. Statt in Panik zu geraten, stupste sie ihn und fragte, wer er sei, worauf er sich entschuldigte. Er hatte sich in der Tür geirrt.

Longyearbyen liegt am Adventfjord, benannt nach der britischen „Adventure“, die 1656 hier auf Walfang ging. Der niederländische Seefahrer Willem Barents hatte die Inselgruppe 1596 entdeckt und erforscht; die Wikinger waren vermutlich bereits im zwölften Jahrhundert da. Mit 61 000 Quadratkilometern ist Spitzbergen beinahe so groß wie Holland und Belgien zusammen – eine Landschaft aus Bergen, Tälern, Fjorden und Gletschern. Menschen hatte die Natur nicht vorgesehen, gelebt hatte hier ursprünglich niemand. Nach den Entdeckern waren Walfänger und Pelzjäger gekommen; dann, als zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts Kohle gefunden wurde, lockte der Bergbau mit gutem Geld. Nur zwei weitere Siedlungen gibt es heute in dieser Einöde aus Eis und Schnee: die internationale Forschungsstation Ny-Ålesund und die russische Bergbaukolonie Barentsburg. 

Håvar Fjerdingøy war 20, als er 1982 nach Longyearbyen zog und fortan Tag für Tag in den 90 Zentimeter hohen Stollen der Grube 3 kroch. Sein Onkel war Bergmann auf dem Festland, für einen Stundenlohn von umgerechnet fünf Euro. Fjerdingøy bekam auf Spitzbergen 50 Prozent mehr, dazu freie Kost und Logis. Im Sommer gab es zwei Monate Ferien, im Winter war es draußen so dunkel wie unter Tage, nur blieb die Temperatur im Stollen bei komfortablen vier Grad minus konstant.

Fjerdingøy gefiel es hier, auch wenn „Huset“ die einzige Kneipe war und Frauen rarer als Eisbären. „Ich war einer der Glücklichen“, sagt er lachend und reißt die Augen auf, als erstaunte es ihn immer noch, dass die umschwärmte Verkäuferin des Kleidergeschäfts ihn zum Mann nahm. Fjerdingøy hatte ein Zimmer in den Unterkünften des Kohlebergbauunternehmens Store Norske. „Eine Wand hier, eine Wand da, dazwischen Bett und Stuhl“, sagt er. Und wie froh er gewesen sei, als sie ein eigenes Apartment bekamen.

Vom Rest der Welt bekam man wenig mit. Eine kleine TV-Station strahlte vom Festland geschickte Videokassetten aus; die Nachrichtensendungen waren zwei Wochen alt. Als Fjerdingøys Rücken nach 17 Jahren kaputt war und der Bergbau in den letzten Zügen lag, wurde er „Bürobergmann“, wie er es nennt. Nun versorgt er die Touristenführer seiner stillgelegten Grube mit Geschichten, geht in der Freizeit auf Rentierjagd oder Seesaibling fischen, den „Spitzbergenlachs“. Gern verzieht er sich auch in die alte Trapperhütte in den Bergen, wo ein Eisbär die Fensterscheibe einzuschlagen versuchte, als er nicht zur Tür hereinkam.

Die einstige „Funktionärsmesse“, wo die Store-Norske-Kader wohnten, ist heute ein Luxushotel für Touristen, die edle Weine auch in der Wildnis nicht missen möchten. Die Wände sind tapeziert mit lebensgroßen Fotos der Bergarbeiter. Mit rußgeschwärzten Gesichtern, tief gefurcht, das schwere Gerät in der Hand, posieren sie vor dem Eingang ihrer Zeche. Dabei war das Haus für Arbeiter früher tabu. „Wenn ein Bergmann da hineinwollte“, so Fjerdingøy, „hieß es: Du bleibst draußen.“

Die Ironie der Geschichte will, dass ein amerikanischer Tourist die Bergbauindustrie von Spitzbergen und den Ort Longyearbyen begründete. Anlässlich einer Kreuzfahrt hatte sich der Amerikaner John Munroe Longyear 1901 die Kohleflöze an- gesehen. Vier Jahre später kaufte er sie den Norwegern ab, denen das Geld zum Abbau fehlte. In Spitzbergen liegen die Lagerstätten waagerecht in den Hügeln; noch 1989 wurden 4100 Kilogramm Steinkohle je Mann und Schicht gefördert, während es das europäische Festland nur auf maximal 2300 Kilogramm brachte.


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mare No. 132

No. 132Februar / März 2019

Von Peter Haffner und Paolo Verzone

AutorPeter Haffner, Jahrgang 1953, hat im ewigen Eis der Bergwelt seiner Schweizer Heimat immer nur eines vermisst – einen Zugang zum Meer.

Der italienische Fotograf Paolo Verzone, Jahrgang 1967, war 2014 erstmals in Spitzbergen und ist seither immer wieder zurückgekehrt.

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Vita AutorPeter Haffner, Jahrgang 1953, hat im ewigen Eis der Bergwelt seiner Schweizer Heimat immer nur eines vermisst – einen Zugang zum Meer.

Der italienische Fotograf Paolo Verzone, Jahrgang 1967, war 2014 erstmals in Spitzbergen und ist seither immer wieder zurückgekehrt.
Person Von Peter Haffner und Paolo Verzone
Vita AutorPeter Haffner, Jahrgang 1953, hat im ewigen Eis der Bergwelt seiner Schweizer Heimat immer nur eines vermisst – einen Zugang zum Meer.

Der italienische Fotograf Paolo Verzone, Jahrgang 1967, war 2014 erstmals in Spitzbergen und ist seither immer wieder zurückgekehrt.
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