Papierkriegerinnen

Mit nichts als Papier und Tinte und heldenhaftem Mut: Wie zwei surrealistische Künstlerinnen auf der Kanalinsel Jersey ihren Partisa­nenkrieg gegen die Nazibesatzer führten

In Saint Brélade auf der Insel Jersey, wo man an guten Tagen bis nach Frankreich hinüberblicken kann, gibt es einen Strand, der so weiß und feinkörnig ist, dass man ins Träumen gerät. Fast an den Strand grenzend, steht dort ein wunderschönes Anwesen namens „La Rocquaise“. Wenn man von hier ins Wasser watet, vorsichtig, wegen der starken Drift, spürt man eine warme Strömung, die bis in den Herbst erhalten bleibt und es einem möglich macht, auch dann noch zu baden, wenn die Blätter sich schon verfärben. Es ist die Art Strand, an dem man leicht auf verrückte Gedanken kommt. Zum Beispiel den, dass man die deutsche Wehrmacht mit selbst geschriebenen Zetteln besiegen kann, auf denen steht: „Alarm! Alarm!! Alarm!!! Warum? Weil Berlin brennt, weil unsere Städte umfallen, weil die fremden Arbeiter und die Flüchtlinge unsere Dörfer ausplündern?“ Es ist nicht unwahrscheinlich, dass einem diese Art Gedanken den Tod bringen.

Nicht dass der Wahnsinn in Claude Cahuns Familie unbekannt wäre. Ihre Mutter hat Jahre in einer Heilanstalt für Geisteskranke verbracht, und der Vater ist so besorgt über die Erblichkeit dieser Disposition, dass er seine einzige Tochter bestärkt, bloß keine Kinder zu bekommen. Das Leben der Tochter ist ohnehin kompliziert genug. „Eine ‚arische‘ Mutter … fettleibig … geschlagen mit Geisteskrankheit, zumindest, wenn man den Psychiatern glaubt, weggesperrt …“, schreibt Cahun in einem Brief, „ein jüdischer Vater zu Zeiten der Dreyfus-Affäre … eine idealistische Erziehung … schon der Gedanke an normale Beziehungen oder Aktivitäten schreckt meine Familie, die, um mich vor einer Welt zu schützen, die mir a priori feindselig vorkam, mich mit einer Herkunft geschlagen hatte, die a priori als todbringend zu beurteilen war. Mein Vater konnte mir zu meinem siebten Ge- burtstag nichts Besseres anbieten als dieses: ‚Es tut mir sehr leid, dass ich dich in diese Welt gebracht habe.‘“

Claude Cahun wird am 25. Oktober 1894 unter dem Namen Lucy Renée Mathilde Schwob in eine wohlhabende jüdische Intellektuellenfamilie in Nantes geboren. Ihr Leben ist früh voller Widerstände, die es zu überwinden gilt. Der Mutter etwa gefällt das schmallippige, spitze Gesicht des Kindes nicht, eine Enttäuschung, die sie auch ausspricht. Der Vater schätzt dafür Lucys wachen Geist und scharfen Intellekt, aber er ist überfordert und gibt die Tochter erst zu einer Tante, dann zur Großmutter. Erst als Lucy 1909 im Alter von 14 Jahren die 16-jährige Suzanne Malherbe kennenlernt, ändern sich die Umstände zum Besseren. Lucy verliebt sich in Suzanne und umgekehrt, sie bleiben auch dann noch ein Paar, als Lucys Vater 1917 die verwitwete Madame Malherbe ehelicht und damit Lucy und Suzanne zu Stiefschwestern macht.

Beide zieht es zur Kunst und Aufsässigkeit. Lucy studiert die Literatur, während Suzanne sich dem grafischen Zeichnen zu- wendet, aber beide sind fasziniert von den Intellektuellensalons in Paris, in denen André Breton und Oscar Wilde verkehren. Sie beginnen mit Geschlechterrollen zu experimentieren, schneiden sich die Haare ab und unterschreiben ihre Werke alsbald mit androgynen Namen. Aus Lucy wird Claude Cahun, aus Suzanne Marcel Moore. Schon bald ist vor allem Claude Cahun eine wichtige, wenn auch unterschätzte Surrealistin, die sich vor allem auf fotografische Inszenierungen und Skulpturen versteht. 2007 wird David Bowie eine große Ausstellung mit ihren wichtigsten Werken kuratieren.

All das wissen die Menschen auf Jersey nicht, als Claude Cahun und Marcel Moore 1937 dorthin auswandern und von dem Geld ihrer Familien das großzügige Anwesen „La Rocquaise“ mit Blick auf die Bucht von Saint Brélade und ihren wunderschönen Strand kaufen. All das wissen auch die Deutschen nicht, als sie am 28. Juni 1940 mit der Invasion der Kanalinseln be- ginnen, mit der Absicht, für Hitler den absurden Atlantikwall zu errichten.

„La Rocquaise“ sollte das Paradies für die beiden Frauen werden. Doch daraus wird nichts. Als die ersten Bomber die Insel erreichen, sitzt Claude Cahun in einem Badeanzug auf einem Handtuch und gießt mit einem Wasserschlauch die Blumen neben sich. Das Flugzeug fliegt so tief, dass Cahun nicht nur die Ab- zeichen auf den Maschinen erkennen kann, sondern sogar die Piloten selbst. Sie hat den Schlauch immer noch in der Hand, als die Bomber Saint Helier erreichen und ihre Munition abwerfen. Hinter den Bergen steigt Rauch auf, elf Menschen sind tot, viele schwer verletzt. Claude Cahun entscheidet, dass es an der Zeit ist, etwas zu tun. Der Gedanke, der ihr kommt, ist, wie gesagt, vollkommen verrückt. Entweder das – oder sie glaubt daran, dass in wirklich jedem Menschen etwas Gutes steckt.

Claude Cahun weiß, was für eine starke Waffe die Sprache ist. Und Marcel Moore spricht fließend Deutsch. Was, wenn es gelänge, an den Durchhalteparolen und der Propaganda der Deutschen Zweifel zu säen? Was, wenn es deutsche Soldaten gäbe, die ihre Zweifel mit den anderen Soldaten teilen würden? In einem Leben, das von Widerstand geprägt ist, scheint es beiden nur logisch, auch diesen Widerstand aus dem Weg zu räumen. Der Nationalsozialismus ist Claude Cahun und Marcel Moore so zuwider, dass sie bereit sind, das eigene Leben zu opfern. Denn dass das Unterfangen lebensgefährlich ist, ist ihnen durchaus bewusst. Vor allem Cahun ist besessen von der Idee, die Besatzer zu besiegen, die längst einen Teil von „La Rocquaise“ be- schlagnahmt und sich in den Wohnräumen breitgemacht haben. Doch anstatt sich den Deutschen offen in den Weg zu stellen, beginnen Cahun und Moore einen psychologischen Krieg mit Stift und Papier. Und in deutscher Sprache. Denn sie wollen die deutschen Soldaten auf der Insel zum Desertieren bringen.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 138. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 138

mare No. 138Februar / März 2020

Von Susanne Frömel und Claude Cahun

Susanne Frömel, Jahrgang 1974, Autorin in Berlin, war für mare nicht zum ersten Mal auf den Kanalinseln. Nach Alderney (mare No. 69) und Guernsey (No. 72) war sie nun auf Jersey und kann sich nicht entscheiden, welche Insel sie schöner findet.

Mehr Informationen
Vita Susanne Frömel, Jahrgang 1974, Autorin in Berlin, war für mare nicht zum ersten Mal auf den Kanalinseln. Nach Alderney (mare No. 69) und Guernsey (No. 72) war sie nun auf Jersey und kann sich nicht entscheiden, welche Insel sie schöner findet.
Person Von Susanne Frömel und Claude Cahun
Vita Susanne Frömel, Jahrgang 1974, Autorin in Berlin, war für mare nicht zum ersten Mal auf den Kanalinseln. Nach Alderney (mare No. 69) und Guernsey (No. 72) war sie nun auf Jersey und kann sich nicht entscheiden, welche Insel sie schöner findet.
Person Von Susanne Frömel und Claude Cahun