Palolos Hochzeit

Gelehrte und Feinschmecker versuchen, die innere Uhr des Meereswurms von Samoa zu verstehen

An manchen Tagen im Oktober oder November ist es auf Samoa nicht ratsam, irgendein Anliegen an eine Behörde zu haben. Das öffentliche Leben auf der Südseeinsel, nach westlichen Maßstäben ohnehin die Erfindung der Langsamkeit, liegt völlig brach. Wer jetzt auf der Bank Geld abheben möchte, muss lange warten; wer an einer akuten Ohrentzündung leidet, sucht seinen Arzt vergebens. Jener ist, genau wie der Schalterangestellte oder der Mitarbeiter vom Amt, auf der Jagd. Genauer: Sie stehen im Meer – Regierungsbeamte, Sozialarbeiter, Busfahrer, Lehrer, Kellner, Geistliche. Schulter an Schulter im Wasser, vorzugsweise in der Nacht und bewaffnet mit Käscher, Lampen und geschärftem Blick. Alle eint die Gier auf eine glibbrige Delikatesse, einen grün schillernden Wurm, der einmal nur im Jahr aus den Tiefen der Korallenriffe aufsteigt. Sein Name: Palolo.

An solchen Tagen steht die kleine Eapeisi Tuvale stets ein wenig abseits. Die Zehnjährige erinnert sich noch genau an ihren ersten Palolo. Ihre Mutter hatte ihr den spaghettidünnen Wurm auf die Zunge gelegt. Doch kaum spürte die damals Sechsjährige den salzigen Geschmack, spuckte sie das Viech in hohem Bogen aus. Wütend trampelte sie sogar darauf herum. „Ekelhaft“, sagt sie und schüttelt sich noch heute, Jahre später, bei dem Gedanken daran, „einfach widerlich.“ Die Enkelin des Häuptlings Taito Muese Tanu versteht noch immer nicht, warum ihre Eltern, die Großeltern, die Tanten und Onkel, eigentlich alle um sie herum, geradezu verrückt auf die Meereswürmer sind.

Unbegreiflich ist ihr darum auch die freudige Aufgeregtheit ihres Clans, bei dem sich alles um die Vorbereitungen zum alljährlichen Palolo-Fest dreht. Seit Tagen hört man die Trommeln der Männer, die stampfenden Tritte der Frauen beim Tanz, die Gesänge. Eapeisis Großmutter dagegen hockt in der Mitte der Versammlungshütte, matronenhaft, ihre Enkelinnen um sich verteilt. Sie zeigt ihnen, wie man aus einem einzigen Palmblatt einen Korb flechten kann. Darin werden sie bald die

Palolos sammeln. Die Anfertigung des Käschers demonstriert Großmutter Russela Tanu, indem sie einen Ast zur Schlaufe biegt und mit Netzstoff bespannt. Alle sind fröhlich, schwatzen, lachen. „Eapeisi, komm, setz dich her!“, ruft die Großmutter. Doch die kleine Abtrünnige bleibt weg vom Kreis. Allein der Gedanke an das Gewürm ... „Ich hab Kopfschmerzen“, antwortet sie und flüchtet aus der Hütte.

Vielleicht bleibt ihr das eklige Zeug ja erspart. Denn die Chancen, den „samoanischen Kaviar“ zu fangen, sind knapp bemessen, das alljährliche Auftauchen der marinen Ringelwürmer im Herbst ist nicht gewiss. Der Ort ist es nicht und nicht die Zeit. Jedes Jahr warten auf Samoa viele Leute nächtelang in Gegenden, wo der Palolo fast immer auftaucht – nur manchmal eben nicht.

Wann und wo genau die Würmer aus ihren Höhlen im toten Korallengestein aufsteigen, können nur samoanische Würdenträger wie Häuptling Taito Muese Tanu voraussagen. Einige sollen sogar in der Lage sein, Sehern gleich, das Aufsteigen der Palolos in Trance zu bestimmen. Von Generation zu Generation ist den Eingeweihten der geheime Erfahrungsschatz überliefert worden. Häuptling Taito beobachtet den Himmel, die Gezeiten und die Pflanzen, etwa den Mosooibaum. Sobald der seine gelben, süßlich duftenden Blüten öffnet, sind die Würmer nicht mehr fern. Vor allem aber verfolgt das Dorfoberhaupt seit Jahren schon den Mond. Bald ist die siebte Nacht nach Vollmond, und der Häuptling hofft: Es wird die Nacht, in der die Palolos am Riff der nahen Lagune schwärmen.

Doch nicht nur die Samoaner fasziniert Palolo. Auch westliche Forscher sind ihm seit Jahrzehnten auf der Spur. Allerdings nicht allein wegen möglicher Gaumenfreuden – sie reizt vor allem die einzigartige Erscheinungsweise des Eunice viridis, des 60 Zentimeter langen Meerestieres.

Denn gleich drei zeitliche Ebenen koordiniert der Wurm in seinem auf die Fortpflanzung ausgerichteten Auftauchen: Nur im Oktober oder November, nur während einer bestimmten Phase des Mondes und nur zu einer ganz bestimmten Nachtzeit schwimmt er Richtung Oberfläche. Dabei können die Palolos selbst in nahe beieinander gelegenen Lagunen zu unterschiedlichen Zeiten aufsteigen. Der Hamburger Zoologe Johannes Martens dagegen vertritt eine andere Theorie: „In Wirklichkeit interessiert sich der Palolo nicht für den Mond, sondern für die Gezeiten vor seiner Wohnhöhle.“ Und zwar genau für den Zeitpunkt, an dem die Amplitude zwischen Hoch- und Niedrigwasser am geringsten ist. Das ereignet sich zwei Mal im Jahr, ein Mal allerdings nur in der Nacht.


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mare No. 28

No. 28Oktober / November 2001

Von Monika Rößiger und Alex Webb

Auch die Autorin Monika Rößiger, frühere mare-Redakteurin für Wissenschaft, musste sich in die Palolo-Regeln einfuchsen, ehe sie von Deutschland aus die exakte Ankunft des Wurms bestimmen konnte. Anderenfalls wäre das mare-Team wohl vergeblich gen Südsee geflogen.

Alex Webb, Jahrgang 1952, spürt noch das glibbrige Gefühl an den Beinen, als er mitten in den Palolos stand. Ihm erging es im Übrigen wie der kleinen Eapeisi: Die erste Palolo-Kostprobe war die letzte.

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Vita Auch die Autorin Monika Rößiger, frühere mare-Redakteurin für Wissenschaft, musste sich in die Palolo-Regeln einfuchsen, ehe sie von Deutschland aus die exakte Ankunft des Wurms bestimmen konnte. Anderenfalls wäre das mare-Team wohl vergeblich gen Südsee geflogen.

Alex Webb, Jahrgang 1952, spürt noch das glibbrige Gefühl an den Beinen, als er mitten in den Palolos stand. Ihm erging es im Übrigen wie der kleinen Eapeisi: Die erste Palolo-Kostprobe war die letzte.
Person Von Monika Rößiger und Alex Webb
Vita Auch die Autorin Monika Rößiger, frühere mare-Redakteurin für Wissenschaft, musste sich in die Palolo-Regeln einfuchsen, ehe sie von Deutschland aus die exakte Ankunft des Wurms bestimmen konnte. Anderenfalls wäre das mare-Team wohl vergeblich gen Südsee geflogen.

Alex Webb, Jahrgang 1952, spürt noch das glibbrige Gefühl an den Beinen, als er mitten in den Palolos stand. Ihm erging es im Übrigen wie der kleinen Eapeisi: Die erste Palolo-Kostprobe war die letzte.
Person Von Monika Rößiger und Alex Webb