Palast der Proletarier

„Metallurg“ bedeutet auf Russisch Stahlarbeiter. „Metallurg“ nennt sich aber auch die einst stolzeste Erholungsstätte für sowjetische Arbeiter am Schwarzen Meer. Spontane Wunderheilungen geschehen hier heute keine mehr.

Für Lenin war Eisen eines der Fundamente der Zivilisation. Mich hat immer die eiserne Logik des Leninschen Denkens beeindruckt. Jetzt ist es moosbedeckt und von Unkraut überwuchert wie der Pfad, auf dem ich gerade spazieren gehe. In diesem prachtvoll verwilderten Park kann ich den schwindelerregenden Wandel der Zeiten fast physisch spüren.

In der Sowjetunion tobte damals ein endloser Kampf um Metall. Die Hochöfen waren sozusagen unsere Aschrams. In Fernsehnachrichten und Liedern wurden Walzstraßen besungen. Auf den Bildschirmen erschien immer wieder das prächtige Gesicht des Stahlgießers mit Schutzhelm, einen langen Stab in der Hand. Das Gesicht war schwarz von Ruß und nass von Schweiß und von Millionen Funken erleuchtet. Er war der Held des Tages. Nachts jedoch, nachdem er mit Freunden einen halben Liter Wodka getrunken und sich eine Weile auf alten Laken mit seiner Ehefrau abgemüht hatte, verwandelte er sich in einen müden Mann, der von Erholung träumte.

Die Erholung, auf die er laut Verfassung ein Anrecht hatte, erwartete ihn in Sotschi, der subtropischen Heilanstalt der Sowjetunion. Den Metallarbeiter erwarteten das warme Schwarze Meer, eine leichte Brise und ein Strand, heiß wie eine Bratpfanne. Den Metallarbeiter erwartete ein großes Sanatorium mit Säulen, Mosaiken, Balkonen mit schmiedeeisernen Geländern und hohen Zimmerdecken. Den Metallarbeiter erwarteten Ärzte und Krankenschwestern, die parat standen, ihm den Schweiß abzuwischen, sein Arbeiterherz abzuhorchen und prüfend in seine erschöpften Augen zu blicken. Im geräumigen Speisesaal erwarteten den Metallarbeiter Gemüsesalat, Borschtsch, Fleischklopse und zum Tee süße Milchbrötchen mit Rosinen. Den Metallarbeiter erwartete ein Sanatorium, das seinen Namen trug. Das Sanatorium „Metallurg“.

Die Menschen im heutigen Sotschi lassen sich in zwei Kategorien aufteilen. Es gibt die Einheimischen und die Erholungsuchenden. Die Erholungsuchenden, das sind selbstverständlich diejenigen, die zur Erholung nach Sotschi gekommen sind. Wie mein Metallarbeiter. Man kann sie nicht als Touristen bezeichnen, obwohl viele von ihnen gerne an Ausflügen teilnehmen. Man kann sie sich kaum vorstellen ohne Ausflüge, sei es mit dem Bus oder dem Boot. Man kann sie auch nicht als Hotelgäste bezeichnen, denn die gehören zu einer anderen Kategorie von Menschen. Erholungsuchende sind sehr viel bedeutender und ontologischer.

Der Begriff des Erholungsuchenden stammt aus Sowjetzeiten und hat sich bis heute erhalten. Es handelt sich dabei um einen Menschen, der sich seine Erholung durch Arbeit mit den eigenen Händen verdient hat. Und wenn etwas nicht so ist, wie es sein sollte, dann kennt er kein Pardon und geht mit seinen Beschwerden durch sämtliche Instanzen. In der Verwaltung des „Metallurg“ sagt man mir, je niedriger das kulturelle Niveau des Erholungsuchenden sei, desto häufiger habe er etwas zu beanstanden.

In der Tat ist die Figur des Erholungsuchenden, gesellschaftlich betrachtet, eine höchst bedeutsame. Er ist ein Werktätiger, der Urlaub bekommen und sich in einen Kurort begeben hat, um seine Arbeitskraft für die künftige Arbeit wiederherzustellen. Vom Touristen oder vom Hotelgast unterscheidet er sich dadurch, dass er seinen sozialen Status des Werktätigen beibehält und sich zum Wohle der Heimat erholt.

Allerdings neigte der sowjetische Erholungsuchende oftmals zu schlechten Angewohnheiten. Morgens ließ er sich in der Sonne braten, mittags aß er für zwei, ab Sonnenuntergang trank er und ging auf Schürzenjagd. Bisweilen kehrte der Erholungsuchende erschöpfter aus dem Kurort zurück, als er hingefahren war. Die Erholung war ein seltenes, ein wenig Freiheit verschaffendes Ventil, ein nicht immer bewusster Protest gegen die gesellschaftliche Reglementierung.

Ich laufe den Pfad entlang, der mit kleinen Fliesen ausgelegt ist, in deren Fugen angenehmes Moos wächst, und denke, wie merkwürdig sich in mir diese süßlichen, vom Zerfall der Sowjetunion hervorgerufenen Gefühle verschlungen haben. Die Sowjetunion ist bis heute nicht vollständig enträtselt. Es gibt keine leichten Antworten auf die Frage, warum sie existiert hat. Diejenigen, die einen mit Gerede über die untaugliche Utopie abspeisen, die der Sowjetunion zugrunde lag, stehen in nichts jenen Hetzern gegen den Sozialismus nach, die im Morgenrot der Perestroika heranreiften, jedoch keinesfalls die russische Rückkehr zu sozialistischen Träumen vorhersehen konnten.

Hier befinde ich mich in der idealen Welt der Nostalgie. Ich bin umgeben von einem Palmengarten mit einer Beimischung aus prähistorischen Magnolienblüten und Kampferbäumen, leuchtend grün wie Papageien. Auf der Höhe meines Gesichts ragen vielfarbige erotische Metaphern in Gestalt süßer Rosen empor. Die hohen, standhaften Zypressen lassen soldatische Kränkung erahnen, hervorgerufen durch eine plötzliche Niederlage. Die russischen Kommunisten liebten Palmen über alles. Die Trauerfeier für Lenin fand 1924 buchstäblich in einem Palmenwald statt, in den sich der Trauersaal im Haus der Gewerkschaften im Zentrum Moskaus verwandelt hatte. Für den Menschen aus dem Norden ist die Palme der Traum nicht nur vom Süden, sondern auch von der Erlangung höchster Harmonie.

Als ich aus dem Palmenwald heraustrete, erblicke ich einen mit nichts zu vergleichenden Palast. In der Sowjetunion liebte man das Wort „Palast“. Diese Liebe entstand aus dem Klassenhass auf die Zarenpaläste. Wladimir Majakowski, der große Lyriker der Revolution, forderte, die Paläste zu zerstören, doch in der folkloristischen Tradition lebte die Liebe des Volkes zu den Palästen aus den russischen Märchen weiter. Kulturpalast, Pionierpalast, die unterirdischen Paläste der Moskauer Metrostationen, schließlich endlose Exkursionen in eben jene Zarenpaläste, die für das siegreiche Volk zur Schau gestellt wurden wie Lenin im Mausoleum – all das sorgte für ständige Aufregung im russischen Unterbewusstsein.

Wie dem auch sei, am Rande des Palmenwalds erblicke ich einen mit nichts vergleichbaren Palast, der die Rolle eines Sanatoriums spielt. Das Sanatorium in der sowjetischen Bedeutung des Begriffs war nicht einfach eine Heilanstalt. Es war ein Treffpunkt mit dem eigenen Ich, das, vom Leben erschöpft, ärztlicher Zuwendung bedurfte, vor allem aber der eigenen Rehabilitation. Nur im Sanatorium traf der Sowjetmensch endlich auf seinen eigenen Körper und erkannte dessen Bedürfnisse und Freuden. Hier fühlte er sich sterblich und unsterblich zugleich.

Metallurg“, der ungeheuerliche Name des Sanatoriums, zu Deutsch Metallarbeiter, fasziniert mich und stößt mich zugleich ab. Nirgendwo begegnet man einem solchen Namen, denn die Namen von Sanatorien und dergleichen Kureinrichtungen sollen in der Regel Ohren und Nerven schmeicheln. Der Name meines Sanatoriums jedoch verbreitet Brandgeruch und das Kratzen von Metall. Er ist eine Herausforderung an alle anderen Sanatorien. Wegen seines Namens verwandelt sich das Sanatorium für mich in die Suche nach dem Metallarbeiter persönlich.

In der Sowjetunion assoziierte man die Schwarzmetallurgie mit einem Bollwerk des Daseins, und Stalin selbst – mit seinem stählernen Pseudonym – war der göttliche Patron der Metallarbeiter, der Avantgarde des sowjetischen Proletariats. Die Schwarzmetallurgie hatte ihre Genies und ihre Bösewichter, Stachanowarbeiter und Saboteure. Die Nummer eins unter den Schriftstellern der Sowjetunion, der Vorsitzende aller übrigen Schriftsteller, Stalins Liebling Alexander Fadejew, gab seinem letzten Roman, den er Anfang der 1950er Jahre zu schreiben begann, den Titel „Schwarzmetallurgie“. Darin behindern sture Akademiemitglieder die bahnbrechende Initiative eines fortschrittlichen Metallarbeiters, sie werden beinahe zu Saboteuren, aber dann stellt sich heraus, dass die ganze Geschichte fingiert war. Während der Tauwetterperiode unter Chruschtschow hielt es Fadejew nicht mehr aus und erschoss sich.

Ich betrachte die Fassade des Palasts, die, wie es in den Werbebroschüren heißt, im Stil des klassischen Barocks gehalten ist, und erkenne den kolossalen, stümperhaften Kitsch eines anderen Stils – den des sozialistischen Realismus, der an griechischer Tradition parasitierte. Anstelle von Marmorsäulen ragen Betonkolosse mit undefinierbarem Anstrich auf. Die Rückseite des Palasts, den ersten Blicken verborgen, erweist sich als hastig zusammengebaute Konstruktion, als Potemkinsches Dorf. Zugleich erstrahlen an den Abenden im Inneren des Palasts wunderschöne und verschiedenartige Kronleuchter im Stil des Art déco. Woher die stammen, kann mir keiner sagen. Vielleicht Kriegstrophäen aus Deutschland.

Alles begann mit dem berühmten Satz von Stalin. Bald nach dem siegreichen Krieg gegen Deutschland zeigte Parteifunktionär Klim Woroschilow dem Genossen Stalin in Sotschi ein neues Sanatorium von blassem, kasernenartigem Aussehen. Angewidert betrachtete Stalin das Gebäude und sprach: Arbeiter haben sich in Palästen zu erholen!“

Aus dem Russischen von Beate Rausch.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 88. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 88

No. 88Oktober / November 2011

Die Heilanstalt „Metallurg“ am Schwarzen Meer war der Stolz der sowjetischen Erholungsindustrie. Zum Wohl der Heimat kamen dort müde Stahlarbeiter wieder zu Kräften. Und heute?

Autor Wiktor Jerofejew, Jahrgang 1947, gehört zu den bedeutendsten Schriftstellern Russlands. 2005 erschien im mareverlag seine Reisereportagesammlung Der Mond ist kein Kochtopf. Seit feststeht, dass in Sotschi die Olympischen Winterspiele 2014 stattfinden, reist der niederländische Fotograf Rob Hornstra, geboren 1975, regelmäßig dorthin, um die Veränderungen in der Region zu dokumentieren. Hornstra ist vertreten durch Institute for Artist Management.

Mehr Informationen
Vita Autor Wiktor Jerofejew, Jahrgang 1947, gehört zu den bedeutendsten Schriftstellern Russlands. 2005 erschien im mareverlag seine Reisereportagesammlung Der Mond ist kein Kochtopf. Seit feststeht, dass in Sotschi die Olympischen Winterspiele 2014 stattfinden, reist der niederländische Fotograf Rob Hornstra, geboren 1975, regelmäßig dorthin, um die Veränderungen in der Region zu dokumentieren. Hornstra ist vertreten durch Institute for Artist Management.
Person Die Heilanstalt „Metallurg“ am Schwarzen Meer war der Stolz der sowjetischen Erholungsindustrie. Zum Wohl der Heimat kamen dort müde Stahlarbeiter wieder zu Kräften. Und heute?
Vita Autor Wiktor Jerofejew, Jahrgang 1947, gehört zu den bedeutendsten Schriftstellern Russlands. 2005 erschien im mareverlag seine Reisereportagesammlung Der Mond ist kein Kochtopf. Seit feststeht, dass in Sotschi die Olympischen Winterspiele 2014 stattfinden, reist der niederländische Fotograf Rob Hornstra, geboren 1975, regelmäßig dorthin, um die Veränderungen in der Region zu dokumentieren. Hornstra ist vertreten durch Institute for Artist Management.
Person Die Heilanstalt „Metallurg“ am Schwarzen Meer war der Stolz der sowjetischen Erholungsindustrie. Zum Wohl der Heimat kamen dort müde Stahlarbeiter wieder zu Kräften. Und heute?