Origami in der Tiefsee

Ein seltsames Lebewesen von eigenwilliger Poesie ist das Papierboot, eine Art Krake, die sich eine hauchdünne Schale, ähnlich wie Reispapier, baut. In diesem Gebilde treibt sie ihr Leben lang durch die Meere auf der Suche nach Liebespartnern

Papierboote sind Wesen, die verwirren. Das beginnt schon mit dem Namen: Weder sind sie aus Papier, noch schwimmen sie auf dem Wasser. Bei Papierbooten, lateinisch Argonauta, handelt es sich vielmehr um faustgroße Kraken, achtarmige Tintenfische. Die Weibchen bauen sich eine hauchdünne Schale, die an Reispapier erinnert. Am liebsten falten sie sich dann zu einer kleinen Origamikunst zusammen, legen die Arme an den ovalen Körper an, stülpen die Saugnäpfe nach außen und zwängen sich hinein. Nur die Augen lugen dann über den Rand, und der Sipho, ein kleiner Rüssel, steht hervor. Von vorne sehen sie aus wie Seesterne, die sich in inniger Umarmung mit einer Muschel befinden.

So verpackt, treiben sie durch die Ozeane, immer mit dem Rücken voran. Sie schwimmen nach dem Rückstoßprinzip wie andere Kraken: Wasser dringt in ihren Körper ein, und sie stoßen es durch den Sipho wieder aus. Ihre Augen sind allerdings gar nicht krakenhaft. Anstatt einer schlitzförmigen Pupille starrt eine runde über den Schalenrand. Die Tiere leben in tropischen und subtropischen Gewässern, fern der Küsten und meist auch fern der Wasseroberfläche. Sie sind überall und nirgends. Sie zu studieren ist schwierig, denn niemand weiß, wann und wo die Papierboote auftauchen. Niemand weiß, wie alt sie werden. Niemand weiß, wo und wann sie sich paaren.

Es ist vor allem die Funktion der Schale, mit der sich Naturforscher und Gelehrte seit Jahrtausenden beschäftigen. Schon Aristoteles mutmaßte, dass die Schale eine Art Schiffsrumpf sei. Wenn der Wind günstig stehe, so glaubte der antike Philosoph und Biologe irrtümlich, entfalteten die Papierboote ihre Arme und segelten über die Wellen davon.

Genauso zeichnete sie später der schwedische Naturforscher Carl von Linné: ein Krake, der in einer Muschelschale dümpelt, seine Arme lässt er über den Rand baumeln. Linné war es auch, der die Wesen 1758 Argonauten taufte, nach den griechischen Sagengestalten, die in ihrem wendigen Schiff „Argo“ auf der Suche nach dem Goldenen Vlies waren. Linné irrte sich in doppelter Hinsicht: Zum einen sind es nur die Weibchen, die die Schale bauen, „Argonautinnen“ müsste man sie demnach nennen. Zum anderen segelt das Argonautenweibchen nicht. Niemals würde es die Schale verlassen, denn zu kostbar ist der Inhalt: Zwischen den hauchdünnen Wänden liegen nämlich Millionen Eier, aufgereiht wie an Schnüren, Trauben bildend, jedes einzelne nur wenige Millimeter groß.

„Aristoteles, Linné und viele Wissenschaftler nach ihnen glaubten, dass die Argonauten ihre Schale gar nicht selbst bauen, sondern sich von anderen aneignen“, erklärt Julian Finn. Er ist Meeresbiologe am Museum von Victoria im australischen Melbourne und hat sich vorgenommen, die Irrtümer seiner Wissenschaftskollegen zu korrigieren. Finn gehört zu den weltweit führenden Argonautenforschern. Sieben Jahre seines Lebens widmete er diesen Tierchen.

Als Erstes reiste er durch die Museen und Privatsammlungen der Welt und räumte in der Klassifizierung auf: 53 Argonautenarten und elf Unterarten wurden im Lauf der Zeit beschrieben; doch nach Finns Arbeit blieben nur noch vier Arten übrig. Die Forscher hatten die Argonauten nach der Form der Schale eingeteilt; sie kann rauer oder glatter, runder oder kantiger sein. Doch Finn fand heraus, dass die Struktur nicht von der Art abhängt, sondern davon, wie schnell die Schale gebaut wird.

Tatsächlich stiehlt ein Argonautenweibchen keine Muschelschalen, wie früher angenommen, sondern baut sich eine eigene. An ihrem ersten Armpaar wächst eine dünne Haut, fein und dehnbar, gleich einer Schwimmhaut. Ausgebreitet ist sie so groß wie ein Handteller. Sie sondert ein kalzithaltiges Sekret ab, das zu der feinen papierartigen Schale aushärtet. Zwischen Argonaut und Schale gibt es keine Verbindung, das Tier trägt sie mit den Armen, und die Schale wächst mit dem Oktopus.

Finn hat winzige, nur etwa einen halben Zentimeter lange Schalen gefunden. Aber auch viel größere: Er formt mit seinen Händen zwei Halbkreise, ein Fußball würde dazwischenpassen. „Einmal habe ich gesehen, wie ein Weibchen ein Loch in seiner Schale repariert“, erzählt er. „Ich konnte durch die dünne Hülle sehen, wie sich die Arme, die eigentlich im Inneren ruhen, bewegten. Ich sah Schatten hin und her huschen.“


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mare No. 102

No. 102Februar / März 2014

Von Pia Volk

Pia Volk, Jahrgang 1978, arbeitet als freie Autorin in Leipzig. Den Argonautenforscher Julian Finn traf sie während ihres einjährigen Aufenthalts in Australien.

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Vita Pia Volk, Jahrgang 1978, arbeitet als freie Autorin in Leipzig. Den Argonautenforscher Julian Finn traf sie während ihres einjährigen Aufenthalts in Australien.
Person Von Pia Volk
Vita Pia Volk, Jahrgang 1978, arbeitet als freie Autorin in Leipzig. Den Argonautenforscher Julian Finn traf sie während ihres einjährigen Aufenthalts in Australien.
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