Omai, der Eroberer

Europa wird 1774 neu entdeckt. Captain Cook bringt einen „Wilden“ aus Tahiti mit, der das wundersame London erforscht

Aus dem Tagebuch eines Tahiti-Reisenden, Ende 18. Jahrhundert

Zuerst erspähte ich einen Jungen auf einer Palme. Neugierig reckte er den Hals, um uns Europäer besser betrachten zu können. Splitternackt hielt der kleine Eingeborene den Stamm umklammert, nur um die Lenden war das typische Tuch Tahitis geschlungen. Doch auf seiner Nase saß, zu meinem großen Erstaunen, eine Brille. Es schien mir ein prächtiges Modell zu sein, in Gold gefasst, wie ich es sonst nur bei Gelehrten meiner Heimat gesehen hatte. Ich wollte den Kleinen packen, doch nach einer Schrecksekunde löste er sich von seinem Ausguck und verschwand schnell wie ein Wiesel zwischen den Bäumen.

Ich folgte ihm ins tropische Dickicht der Insel Huahine, den Weg wies mir ein Trampelpfad. Vögel schrien fremdartig, es war ein warmer, feuchter Tag. Mein Fuß blieb in einer Mulde hängen, fast stolperte ich. Beim Innehalten bemerkte ich in einiger Entfernung einen Haufen, aus dem das glänzende Mundstück eines Waldhorns herausragte. Es kam noch sonderbarer. Denn dort fand sich achtlos weggeworfen, was man bei uns hoch schätzt: nicht nur Bruchstücke weiterer Musikinstrumente wie Geige und Flöte, auch ein unvollständiges Schachspiel, zwei rostige Kaffeemühlen, Landkarten und wunderbar gefertigte kleine Modelle von Kutschen, Industriemaschinen, Gebäuden – sogar ganze Straßenzüge waren nachgebildet.

Verwundert griff ich mir, was ich tragen konnte. Ich bekam es mit der Angst, besinnungslos folgte ich schwer beladen dem Trampelpfad, der abrupt am Strand vor einem zweistöckigen, augenscheinlich verlassenen Holzhaus endete. Es wirkte auf mich in seiner Art halb europäisch, halb tahitianisch. Eine Tafel mit lateinischen Buchstaben hing über dem Hauseingang: „König Georg III., den 2. November 1777. Schiffe ,Resolution‘ und ,Discovery‘, Befehlshaber Cook und Clerke“. Seitdem war fast ein Jahrzehnt vergangen.

Die Tür, mit einem schweren Schloss versehen, war nur angelehnt. Ich trat hinein und entdeckte hier in der Fremde eine Stube, die mir von zu Hause vertraut war: mehrere Stühle, ein fein gearbeiteter Tisch, eine Leuchte. Ein Kupferstich an der Wand zeigte einen Eingeborenen, wie er in diesen Breiten typisch anzutreffen war: langes, welliges Haar, eine breite Nase, einen sinnlichen Mund und stechend dunkle Augen. „Für Omai, den Insulaner. Lebte in London 1774–1776“, stand in Englisch darunter. Vorsichtig hob ich das Bild vom Nagel, wickelte es in ein Ledertuch und schob es in meine Tasche. Dann schloss ich leise die Tür und verließ eilig den Ort, der mir nicht recht geheuer war.

Bei meinem nächsten Aufenthalt in London will ich mich nach diesem Omai und seinem Schicksal erkundigen.


Lady H., englischer Hochadel

Zum ersten Mal traf ich Omai auf der Promenade des Vauxhall-Parks. Es war an einem wunderbaren Sommerabend, wie er in London selten zu finden ist. Auf den sandigen Alleen des Parks flanierten die Damen und Herren bester englischer Gesellschaft dicht an dicht, bauschige Röcke streiften einander, die Männer grüßten sich mit einer knappen Verbeugung; man lachte, trank Wein und Champagner, lauschte der wunderbaren Musik aus den Pavillons. Plötzlich dämpfte sich das Stimmengewirr zu einem wispernden Gerau-ne – und durch die Menge schritt, den Kopf erhoben, Omai.

Vielleicht lag es am warmen Licht Hunderter Lampen von Vauxhall, aber niemals wieder sah ich eine anmutigere Erscheinung wie diesen edlen Wilden. Er machte eine bemerkenswerte Verbeugung. Seine Manieren waren vollkommen und gleichzeitig ungezwungen, in seinem Gesicht lag etwas Angenehmes, sehr Bescheidenes. Man hätte denken können, er entstamme einem ausländischen Königshof. Dabei war das Gegenteil der Fall, eröffnete mir später der Kaufmann und Wissenschaftler Joseph Banks, der für Omais Unterhalt in London aufkam. Omai befand sich vor seiner Abfahrt nach London in einer äußerst abhängigen Lage, nachdem sein Vater Besitz und Leben in einem Krieg verloren hatte und die Familie auf eine Nachbarinsel fliehen musste.

Natürlich hatten wir schon von der Ankunft des allerersten Tahitianers in London gehört. Schließlich wurde Omai wenige Tage, nachdem er im Juli 1774 mit dem Schiff „Adventure“ anlandete, König Georg III. und seiner Gemahlin vorgestellt. Sein natürlicher Anstand ließ ihn das Zeremoniell am Hofe nach kurzer Belehrung mit Bravour bewältigen – danach war sein artiger Hofknicks und sein wohlerzogenes Benehmen in aller Munde. Wer Rang und Namen hatte, wollte nun Omai zu seinem Fest hinzuladen; überall wollte man ihn haben, überall war er gern gesehen.

Wir bereiteten eine wunderbare Zeit für Omai. Er liebte besonders die Oper, genoss aber auch die Fuchsjagd oder im Winter das Schlittschuhlaufen. Die Natur, sein Lehrmeister, hatte ihm eine große Begabung für den Tanz geschenkt – auf den Bällen machte er deshalb immer eine gute Figur, was uns Frauen entzückte. Aber auch die Gesellschaft von Herren schien er an langen Abenden in Salons und Clubs zu schätzen. Ihm blieb keine Tür zu Londons höchsten Kreisen verschlossen.

Nur einmal bekam ich das Gefühl, ihm würde die Eitelkeit zu Kopf steigen. Ich nahm ihn zur Seite und verabreichte ihm als Heilmittel die Wahrheit: Unser Umgang mit ihm sei so vertraut, weil uns seine Seltenheit belustige. Als Eingeborener stehe er außerhalb aller Etikette, was den Umgang mit ihm gefahrlos mache. Wäre er unter uns geboren, so würden wir ihn kaum ansehen, denn ihm fehle jeder Rang. So aber fühlten wir mit ihm eine paradiesische Freiheit, die wir uns selbst niemals gewährt hätten.


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mare No. 42

No. 42Februar / März 2004

Von Susanne Leinemann

Susanne Leinemann, Jahrgang 1968, lebt als freie Journalistin und Buchautorin in Berlin. Die Historikerin hat in ihrem Text Fakten und Fiktion kombiniert. Zwar sind die Erzähler frei erfunden, doch was sie berichten, beruht auf Quellen des 18. Jahrhunderts: Logbüchern des Kapitän Cook, Aufzeichnungen des Naturforschers Georg Forster und Tagebüchern des Physikers Georg Christoph Lichtenberg.

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Vita Susanne Leinemann, Jahrgang 1968, lebt als freie Journalistin und Buchautorin in Berlin. Die Historikerin hat in ihrem Text Fakten und Fiktion kombiniert. Zwar sind die Erzähler frei erfunden, doch was sie berichten, beruht auf Quellen des 18. Jahrhunderts: Logbüchern des Kapitän Cook, Aufzeichnungen des Naturforschers Georg Forster und Tagebüchern des Physikers Georg Christoph Lichtenberg.
Person Von Susanne Leinemann
Vita Susanne Leinemann, Jahrgang 1968, lebt als freie Journalistin und Buchautorin in Berlin. Die Historikerin hat in ihrem Text Fakten und Fiktion kombiniert. Zwar sind die Erzähler frei erfunden, doch was sie berichten, beruht auf Quellen des 18. Jahrhunderts: Logbüchern des Kapitän Cook, Aufzeichnungen des Naturforschers Georg Forster und Tagebüchern des Physikers Georg Christoph Lichtenberg.
Person Von Susanne Leinemann